Marco Haller
Die Pflasterstein-Tortur ist für Marco Haller vorbei, jetzt steuert der Kärntner seine neunte Tour de France an.
IMAGO/Tomas Sisk

Wien – Am 1. Mai endet für Marco Haller mit dem deutschen Klassiker Eschborn–Frankfurt über 204 Kilometer eine dreiwöchige Verschnaufpause. Wenn man eine Rennpause für einen Radprofi, der selbstverständlich weiter viele Kilometer abzuspulen hat, überhaupt so nennen kann. Und selbst wenn er und seine Frau Katharina einen "elf Monate alten, kleinen Bombenleger" namens Xaver zu Hause haben, ist der Erholungswert für den 33-jährigen Marco Haller vom Team Bora-Hansgrohe hoch. Denn die ersten Rennwochen des Jahres waren zermürbend.

Routine als Retter

Immerhin, Haller ist zwar nicht ohne Stürze, aber ohne Verletzungen aus den Frühjahrsklassikern hervorgegangen. Die Routine hat geholfen. Er hat die gefährlichsten Situationen "durch taktisches Verhalten zu umgehen versucht. Am Ende entscheidet meine Bremse, wie schnell mein Rad fährt." Vielen anderen Kollegen ist das nicht so gut gelungen wie Haller, die Liste an schwer bis sehr schwer verletzten Profis wurde in den vergangenen Wochen lang und länger. Und auch prominente Namen stehen auf ihr: Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard, die Super-Allrounder Wout van Aert und Remco Evenepoel sowie Primož Roglič, der für Bora-Hansgrohe um den Sieg bei der Tour de France mitfahren soll.

Die Gründe liegen für Haller, der Bora-Hansgrohe mit Ausnahme von Lüttich–Bastogne–Lüttich bei allen Klassikern und Halbklassikern im Frühjahr vertrat, zumal bei Rennen dieser Kategorie auf der Hand. "Es wird enger auf der Straße. Der Respekt vor den Konkurrenten nimmt ab." Ein Mitgrund für diese Entwicklung sieht Haller in einer Erosion der Hierarchie. "Die Persönlichkeiten im Feld sind komplett weggebrochen. Es gibt keine Capos mehr." Früher hätten Jungprofis für einen Mann wie Fabian Cancellara Platz gemacht.

Profis wie der zweimalige Olympiasieger aus der Schweiz, der Paris-Roubaix und die Flandernrundfahrt je dreimal für sich entschied, hätten auch noch genug Einfluss gehabt, Rennen zu neutralisieren, wenn es die Umstände erforderten. Haller erinnert sich in diesem Zusammenhang an ein Rennen im Oman, bei dem es derart heiß war, dass es zu Reifenplatzern kam. Nicht zuletzt Cancellara habe dafür gesorgt, dass der brenzligen Situation von der Rennleitung auch Rechnung getragen wurden.

Verrohung der Sitten

Haller beobachtet eine gewisse Verrohung der Sitten im Feld, "das kollegiale, das teamübergreifende Miteinander ist immer weniger gegeben". Das gehe über das Abkürzen und Abdrängen in Kurven hinaus, etwa wenn es bei Rundfahrten darauf angelegt werde, Konkurrenten aus der Karenzzeit hinauszufahren. "Das ist wie eine Schwalbe im Fußball, es soll nicht sein, aber den Vorteil, den man dadurch hat, nimmt man an."

Haller geht als Optimist davon aus, dass die bedingungslose Risikobereitschaft mit zunehmender Verletzungshäufung abnehmen wird, nicht zurückdrehen, das hat er am eigenen Leib verspürt, ist die Zunahme des Tempos. Die meisten Eintagesrennen im Frühjahr, an denen er teilnahm, wurden in der schnellsten Zeit ihrer Geschichte eine Erledigung zugeführt. Das tröstet Haller auch über seine wenig berauschenden Ergebnisse hinweg. Bei Mailand–San Remo kam er als 37., bei der Flandernrundfahrt als 33. an. Bei Paris–Roubaix waren die Akkus leer, er kam als 129. ins altehrwürdige Velodrome, "den Mythos habe ich nicht zu Ende träumen müssen".

Keiner fürs Podest

Generell litt Haller, der mit seiner Familie abwechselnd in Wien ("der Flughafen und das stabile Wetter sind ideal") und Reifnitz am Wörthersee logiert, ein wenig unter den Zielen des Teams für dieses Jahr. Sehr viel ist auf ein starkes Abschneiden bei der Tour de France mit dem Slowenen Roglič an der Spitze ausgerichtet. Haller fehlte bei den Klassikern ein Kapitän, für den er sich aufopfern konnte. "In dieser Rolle kann ich aufblühen, ein Fahrer fürs Podest bin ich nicht und war ich nie." Der Sieg beim Cyclassics Hamburg 2022, in seinem ersten Jahr bei Bora steht neben dem Gesamtsieg bei der Tour des Fjords 2015 für den Mann aus St. Veit an der Glan als größter Einzelerfolg zu Buche.

Dass nicht nur Spitzenergebnisse im Profiradsport zählen, beweist die Tatsache, dass Haller schon achtmal die Tour de France schmückte. Damit ist er die Nummer zwei hinter dem österreichischen Rekordler Bernhard Eisel. Der Steirer, heute einer der sportlichen Leiter bei Bora, kam auf ein Dutzend Tourstarts. Schon 2015, in seinem dritten Jahr als Profi des Teams Katusha, wurde Haller erstmals für die große Schleife nominiert, "das war der Ritterschlag".

Nummer neun

Die Nummer neun ist auch das große Ziel in diesem Jahr, ins Achterteam von Bora zu kommen wird nicht einfach sein, auch wenn Haller in den vergangenen beiden Jahren gute Arbeit für die Mannschaft geleistet und jeweils unter den Top 100 nach Paris kam. "Ich stehe auf der berüchtigten Longlist." Das Ziel ist, Anfang Juni noch immer auf einer Liste zu stehen. Am 29. dieses Monats wird die Tour de France in Florenz gestartet. Bis dahin hat Haller einen durchaus üblichen Speisezettel, über die Norwegen-Rundfahrt geht es zunächst zur Tour de Suisse. Echte Verschnaufpausen werden für die Familie Haller bis zum Sommer nicht mehr drin sein. (Siegfried Lützow, 27.4.2024)