Indisches Auto
Auf seinem Parkplatz entdeckteWalter J. Lindner einen Hindustan Ambassador. Nach einer Generalüberholung diente er als Botschafterwagen.
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Das Buch ist die Geschichte einer Liebe. Der Liebe eines Westlers zu einem Land, das so vielfältig wie unergründlich und inzwischen mit 1,4 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste der Erde ist.

Indien heißt das Objekt der Begierde und Walter J. Lindner heißt der Liebhaber. Ein Weltenbummler aus München, der 1977 als Backpacker Indien zum ersten Mal bereiste und 2019 als deutscher Botschafter zurückkehrte. Kein Wunder daher, dass die Geschichte der großen Liebe mit einer Liebesgeschichte im Kleinen beginnt.

Unterwegs mit Aunty Amby

An seinem ersten Tag in der Botschaft in Delhi im März 2019 entdeckt Lindner in einer Ecke des hauseigenen Parkplatzes ein verstaubtes knallrotes Auto. Es ist ein Hindustan Ambassador, das Flaggschiff der (inzwischen nicht mehr existenten) indischen Automarke. Zum Erstaunen der indischen Chauffeure lässt Lindner den Wagen auf Hochglanz bringen. Der standesgemäße Botschafterwagen, eine deutsche Edelkarosse, bleibt in der Garage. Diese Geste, eine Mischung aus Respekt vor dem Gastland und, vielleicht, einem Hauch von Koketterie, lässt Lindner die Herzen der Menschen zufliegen, wo immer der rote Nicht-Blitz auftaucht.

Lindners Entscheidung für "Aunty Amby", wie der Wagen bald nur noch genannt wird, kennzeichnet seine tiefe Zuneigung zu und seinen Respekt vor dem Land, die sich durch das Buch ziehen, ohne dabei die inneren Widersprüche und riesigen Baustellen auszuklammern. Wie könnte es auch anders sein in einem Konglomerat aus unzähligen Sprachen, Religionen und Traditionen, das gleichzeitig in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lebt. Und, bei allen Problemen und auch bedenklichen Erscheinungen wie dem hinduistischen und muslimischen Extremismus, die größte funktionierende Demokratie der Erde ist.

Walter J. Lindner mit Heike Wolter, "Der alte Westen und der neue Süden – Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist". € 25,70 / 320 Seiten. Ullstein, Berlin 2024

Balanceakte

Furchtbare Lebensbedingungen der Ärmsten und teilweise modernste Infrastruktur, Unterdrückung der Frauen und emanzipierte, bestens ausgebildete Frauen in Spitzenpositionen, Slums und hypermoderne Start-up-Center à la Silicon Valley, innenpolitisch zunehmend hinduistisch-nationalistische Tendenzen unter Premier Narendra Modi und außenpolitisch ein Balanceakt zwischen Russland, China und dem Westen – das alles ist Indien. Wie es nach den Parlamentswahlen weitergeht, die bis 1. Juni dauern und Umfragen zufolge den dritten Sieg in Folge für Modi bringen dürfte, ist offen.

Und was kann, soll der Westen von diesem Kosmos lernen? Zuallererst, meint Lindner, Respekt und Demut. Postkoloniale Bevormundungsattitüden mit dem moralischen Zeigefinger kommen ganz schlecht an. Auch die vielfältigen Ausdrucksformen von Spiritualität können uns bereichern, wenn wir wollen. Daneben aber auch kompromissloser Leistungswille und Durchsetzungskraft. Mit seiner sympathischen Empathie macht der Autor jedenfalls neugierig auf dieses ungeheuer vielfältige, widersprüchliche und immer überraschende Abenteuer. (Josef Kirchengast, 27.4.2024)