Zwei H&M-Kindershirts der Größe 104: Welches wurde wohl in der Bubenabteilung, welches in der Mädchenabteilung gekauft?
Heidi Seywald

Die Beweislage ist schon nach zwei Besuchen der Wiener H&M-Filiale klar. Bei den Jungs hängt mehr Stoff auf den Bügeln als wenige Meter weiter bei den Mädchen. Dass die Sache so eindeutig ausfällt, hätte ich nicht gedacht. Ich hatte mich auf die Suche nach einem T-Shirt in der Größe 104 gemacht – mit einer Frage im Gepäck: Ist das ein Zufall, dass T-Shirts für Mädchen oft kleiner, schmaler, kürzer ausfallen als die der Buben? Erst recherchierte ich links in der Abteilung mit den abenteuerlichen Prints. Dann rechts in jener mit den pinken Barbie- und Einhorn-Motiven. In fünf Fällen sieht das Ergebnis gleich aus: Die T-Shirts sind zwar unterschiedlich geschnitten, immer aber fallen die Modelle für Jungs um einige Zentimeter größer aus, meist sind auch die Ärmel länger.

Eigentlich dürfte das doch gar nicht sein, oder? Die Kleidergröße für Mädchen wie Buben bemisst sich schließlich nach der Körpergröße. Ist ein Kind 104 Zentimeter groß, trägt es Größe 104. So einfach aber ist die Sache offenbar nicht.

Dass weibliche Körper sehr früh anders eingekleidet werden als jene der Jungen, war in Internetforen schon oft Diskussionsthema. "Mädchensachen sind enger geschnitten, das geht schon recht früh los", stellt eine Userin auf der Elternplattform Urbia fest. Eine andere hat beobachtet, dass Kleidung für Mädchen schon im Kleinkindalter tailliert wird. Eine Größe 122 sei bei Zara kleiner als bei H&M und "innerhalb gleicher Marken oder Geschäfte bei den Jungs größer als bei den Mädchen", berichtet eine Redakteurin des Web-Portals Familie. Nachsatz: "Das finde ich total doof (...), Zahlen kennen kein Geschlecht!"

Am Stoff gespart

Dass Gendermarketing auch vor den Schnitten der Kinderabteilungen nicht haltmacht, führte die Süddeutsche Zeitung 2022 mit einer aufwendigen Datenanalyse vor. Untersucht wurden Bilder und Beschreibungen von über 20.000 Kleidungsstücken für Kinder unter zehn Jahren. Knapp 4000 Hosen der Unternehmen Zalando, About You und H&M wurden digital abgepaust und übereinandergelegt. Das Ergebnis? Während durchschnittliche Sommershorts für Jungen bis zur Mitte des Oberschenkels reichen, enden die Pendants für Mädchen in der Regel kurz unter dem Po. Wenn Sozialisierung und gesellschaftliche Normvorstellungen prägend sind, was haben dann Hotpants für Mädchen zu bedeuten? Die Kleidung für Mädchen sei darauf ausgelegt, Haut zu zeigen, kommentierte Almut Schnerring, Autorin des mittlerweile zehn Jahre alten Buches Die Rosa-Hellblau-Falle, die Analyse der Sommershorts. In der Logik des Marktes seien Mädchen in erster Linie kleine Frauen, die gefallen sollen. Bei den Jungen gehe es bei Kleidung hingegen darum, Bewegung zu ermöglichen.

Links das T-Shirt aus der Abteilung für Jungen (9,99 Euro), rechts aus der für Mädchen (7,99 Euro).
Heidi Seywald

Doch hat sich seither etwas getan? Anruf bei der in Wien lebende Autorin und Influencerin Evelyn Höllrigl Tschaikner. Sie beschäftigt sich mit Rollenbildern und Elternschaft und ist auf Social Media aktiv. "Der Trend", meint sie, sei "nach wie vor stabil." Wie unterschiedlich groß Kinderkleidung ausfällt, fiel ihr bei Einkäufen für ihre Tochter und ihre beiden Söhne auf. Auf Instagram zeigte Höllrigl Tschaikner deshalb Videos auf Recherche-Streifzügen durch Fast Fashion-Ketten von Mango und C&A über Zara bis Primark. Überall dasselbe Bild: Mädchenmode klein, Bubenmode groß geschnitten. Oft sind die Stoffe in den Mädchenabteilungen noch dazu dünner. "Seltsam, dass der Körper von weiblich gelesenen Menschen bereits im Babyalter anders bewertet wird", sagt Höllrigl Tschaikner. Die Botschaft dieser Schnittmuster, meint sie: "Mädchen sollen dünn, schmal und klein sein." Zudem schwinge hier eine Doppelmoral mit: "Werden bauchfreie Shirts bei kleinen Mädchen noch als süß empfunden, werden 15-Jährige im Crop Top abgewertet."

Hinter der Trennung der Geschlechter stecken marktwirtschaftliche Überlegungen. Mit Kindermode wird viel Geld verdient, mit Mädchen- und Jungen-Abteilungen noch viel mehr. Die Fast-Fashion-Giganten haben in den vergangenen Jahrzehnten das Gendermarketing mit ihren ständig wechselnden Kollektionen auf die Spitze getrieben. Besonders groß ist das Angebot in den Mädchenabteilungen. Wenn vor allem kleine Mädchen gelehrt werden, ständig neue Sachen zu brauchen, dann, so die Hoffnung von Zara und Co, kaufen sie auch später regelmäßig bei uns ein.

Genderneutrale Mode

Dass es auch anders geht, führen vor allem kleinere Labels vor. Wie jenes von Eszter Szabolcs. Die Unternehmerin entwirft in Wien seit 16 Jahren ökologische Kindermode. Ihr Credo lautet bis heute: "Die Kinder sollen es bequem haben." In ihrem Geschäft in der Josefstädter Straße wird nicht nach Geschlecht unterschieden, im Webshop werden sie "Kids" oder "Lauser" genannt. Aber auch Szabolcs musste zu Beginn recherchieren. Als sie sich 2008 nach ihrer Ausbildung an der Modeschule Hetzendorf mit ihrem Label Pagabei selbstständig machte, wusste sie nicht, wie Schnitte für Kinder erstellt werden. Sie standen in ihrer Ausbildung nämlich nicht auf dem Lehrplan. Erst kaufte Szabolcs einige Burda-Schnitte, doch die "waren viel zu klobig". Also schaute sie sich um bei den großen Herstellern, von Petit Bateau bis C&A. Und stellte fest, dass jeder Hersteller sein eigenes Ding machte. Die einen eher klein, die anderen eher groß zuschnitten. Sie maß ihren damals kleinen Sohn ab, entwickelte auf diese Weise ihre eigenen Schnitte.

Es sind allerdings Veränderungen zu beobachten. Ende 2017 entschied beispielsweise das Unternehmen Hema, die Bezeichnungen "Junge" und "Mädchen" aus der Bekleidungsabteilung für Kinder zu streichen. Der Auslöser: Beschwerden von Eltern. Kleine Kindermodelabels wie Who said aus Berlin werben auf ihrer Website aktiv damit, mit "farbenfroher Kleidung für alle Kinder vorhandene Geschlechterstereotypen aufzubrechen". Auch die angesagte schwedische Marke Mini Rodini unterscheidet nicht zwischen den Geschlechtern. "Kinder sollten frei sein in ihrer Entscheidung. Wir machen auch pinkfarbene Kleider, aber wir sagen an keiner Stelle: Die sind für Mädchen", sagt dessen Gründerin Cassandra Rhodin in Interviews.

Allerdings kostet Genderneutralität in den meisten Fällen mehr. Für ein T-Shirt von Mini Rodini legt man 32 Euro hin, bei Pagabei kostet ein Shirt 31 Euro, Who said berechnet zwischen rund 29 und 35 Euro. Die Preise mögen gerechtfertigt sein. Doch erst, wenn die großen Modeketten sich dazu durchringen, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern mehr zu machen, wird sich etwas ändern, möglicherweise. (Anne Feldkamp, 4.5.2024)