Das von Gerhard Karner geführte Innenministerium möchte Chats mitlesen können. Der grüne Koalitionspartner ist empört.
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Es knirscht in der Koalition. Grund ist diesmal ein netzpolitisches Thema: Das ÖVP-geführte Innenministerium hat sich ohne Wissen des grünen Regierungspartners in Brüssel für eine anlasslose Chatkontrolle sowie eine europäische Vorratsdatenspeicherung starkgemacht. Und das, obwohl es eigentlich einen Allparteienbeschluss gegen eine solche Massenüberwachung gibt. Auch Grundrechtsorganisationen sind alarmiert.

Eigentlich war es gut österreichisch eine "g'mahte Wies'n": Im Parlament wurde schon vor eineinhalb Jahren beschlossen, dass sich Österreich klar gegen die Pläne zur Messengerüberwachung der EU-Kommission stellt. Damals stellten die Abgeordneten klar: Es wird in Österreich keine anlasslose Massenüberwachung von Chatnachrichten geben. ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos stimmten dem Antrag der Grünen damals zu. Auch die FPÖ war gegen die Chatkontrolle, stellte aber einen eigenen Antrag. Eine parlamentarische Spitzfindigkeit, denn im Grunde waren sich alle einig.

Andere Länder fassten daraufhin ähnliche Beschlüsse, und tatsächlich scheiterten die Verhandlungen über das höchst umstrittene Gesetz in Brüssel ebenso. Nicht zuletzt weil gegen die zuständige Kommissarin massive Lobbyingvorwürfe laut wurden und auch der Verdacht der Desinformation im Raum stand. Die Chatkontrolle war krachend gescheitert. Datenschutzorganisationen, zahlreiche Politiker, Wissenschaft und Kinderschutzorganisationen hatten sich gegen die Pläne ausgesprochen. Aus ihrer Sicht war alles leiwand, um im österreichischen Duktus zu bleiben.

Die Chatkontrolle ist wieder da

Nun, ein halbes Jahr nach dem Aus für die Pläne der EU-Kommission, ist die Chatkontrolle plötzlich wieder da, und Österreich ist federführend daran beteiligt, wie geheime Sitzungsprotokolle belegen. Jetzt ist aber nicht mehr die Bekämpfung von Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern das Hauptargument der Befürworter der Chatkontrolle.

Nun ist zunehmend von einen Phänomen die Rede, das vor allem Polizeibehörden als "Going Dark" bezeichnen: Die Verschlüsselung von Diensten wie Whatsapp, iMessage, Signal oder Facebook Messenger droht Ermittlerinnen und Ermittler blind und taub zu machen. Das macht es Kriminellen möglich, ihre Kommunikation völlig von der Strafverfolgung abzuschotten – "Going Dark". So lautet zumindest die Argumentation in einer Expertengruppe der EU-Kommission, die hauptsächlich von Vertretern von Polizeibehörden besetzt ist. Für Österreich sitzt die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit am Verhandlungstisch.

Dass sich eine Expertengruppe aus Polizistinnen und Polizisten sowie Geheimdienstlern eine Aufhebung der Verschlüsselung von Messengern wünscht, ist auch gar nicht weiter überraschend. Ermittler fordern schon seit Jahren Zugriff auf Chatnachrichten, auch in Österreich. Auch Europol will die Verschlüsselung lieber heute als morgen aufbrechen. Das Gremium hat aber nur beratenden Charakter und eigentlich keinen direkten Einfluss auf die Gesetzgebung. Eigentlich, denn die "Hochrangige Gruppe für den Zugang zu Daten für eine wirksame Strafverfolgung", so der offizielle Name, scheint in Brüssel immer mehr Gehör zu finden (DER STANDARD berichtete).

Die Vorschläge der Gruppe fanden sich nun auch in einem geheimen Protokoll einer Sitzung des "Ständigen Ausschusses für die operative Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit (COSI)". Darin wird deutlich, dass mehrere EU-Staaten Zugriff auf verschlüsselte Daten und Kommunikation sowie eine europaweite Vorratsdatenspeicherung befürworten. Für Österreich ist das Innenministerium in diesem Gremium.

Drehen an der Wahrheit

Und das Innenministerium dürfte sich sehr aktiv an den Verhandlungen beteiligen: Darin heißt es, dass Österreich dringenden Handlungsbedarf in der Frage der Verschlüsselung und Vorratsdatenspeicherung sieht. Das Innenministerium forderte außerdem Abkommen für den Austausch personenbezogener Daten – und es müsse auch möglich sein, Daten außerhalb von Rechtshilfeersuchen auszutauschen.

Aus dem Papier geht auch hervor, dass man sehr wohl einen öffentlichen Aufschrei aufgrund des Eingriffs in die Grundrechte der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger erwartet. Für das Innenministerium kein Problem: Man müsse nur das richtige "Narrativ" setzen, pflichtete man dem Vorsitz bei. Man könne ja einfach behaupten, dass es bei der De-facto-Abschaffung der Verschlüsselung eigentlich um den Schutz der Grundrechte der Menschen gehe.

Koalitionspartner will Überwachungspläne stoppen

Beim Koalitionspartner der ÖVP, den Grünen, war man über den Bericht des STANDARD einigermaßen erstaunt, denn offenbar wusste man nichts von den Verhandlungen des Innenministeriums unter Gerhard Karner (ÖVP) in Brüssel. Das ist erstaunlich, schließlich ist laut Informationen des Innenministeriums auch ein Vertreter des Justizministeriums in der Going-Dark-Gruppe. Bei den Grünen bestreitet man das: Beamte des Justizministeriums seien nicht bei den Arbeitsgruppen zur Chatkontrolle dabei, hieß es.

Dennoch: "Wir Grünen haben bereits mehrfach klargestellt, dass eine anlasslose Massenüberwachung von Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen einer Chatkontrolle nicht mit dem Recht auf Privatsphäre, nicht mit dem Grundrecht auf Datenschutz und auch nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verfassungsgerichtshofs vereinbar ist. Es wird von unserer Seite kein Aufweichen der grundrechtlichen Garantien geben", sagt Süleyman Zorba, Digitalisierungssprecher der Grünen. Und: "Eine anlasslose Massenüberwachung wird es mit uns Grünen nicht geben."

Messengerdienste wie Signal bieten Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Technisch ist es mit aktuellen Methoden Dritten nicht möglich, die Kommunikation mitzulesen.
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Klar ist auch, dass eine Aufhebung oder Aufweichung von Verschlüsselung zu massiven Sicherheitsrisiken führt – insbesondere im Hinblick auf eine zunehmende Bedrohung durch Cyberangriffe. "Echter Schutz vor Terrorangriffen im Netz bedeutet, dass wir eben nicht weiter Sicherheitslücken aufmachen", so Zorba.

"Forensische Tools" – so werden Bundestrojaner in Brüssel genannt – sowie die Chatkontrolle wurden bereits 2019 durch den Verfassungsgerichtshof als klar grundrechtswidrig gekippt. Damals war die ÖVP in einer Regierung mit der FPÖ. "Dass immer wieder versucht wird, dieses bereits gescheiterte schwarz-blaue Projekt erneut zu aktivieren, ist in höchstem Maß bedenklich. Diese generelle Kriminalisierung von Bürgerinnen und Bürgern ist nicht hinzunehmen", sagt Zorba.

Massive Kritik kommt auch von der netzpolitischen Sprecherin der SPÖ, Katharina Kucharowits. Sie sei empört, dass der Innenminister klar gegen einen bindenden Beschluss des Parlaments handle. "Der Innenminister setzt sich auf EU-Ebene dafür ein, dass die Behörden jeden Chat und jedes Bild in der Familiengruppe mitlesen können. Das ist Irrsinn und macht auch niemanden sicherer." Karner müsse sich jetzt den Fragen der Abgeordneten im Parlament stellen, fordert Kucharowits.

Neos: "Pläne mit Demokratie unvereinbar"

Der Datenschutzsprecher der Neos, Nikolaus Scherak, hat eine parlamentarische Anfrage an Innenminister Karner gerichtet. Er kritisiert, dass nicht nur Chats, sondern auch das Internet der Dinge überwacht werden soll. Den Plänen zufolge sollen auch vernetzte Geräte wie smarte Lautsprecher mit Sprachassistenten und ähnliche Geräte überwacht werden. "Die Implementierung solcher Maßnahmen würde nicht nur die Privatsphäre massiv einschränken, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in digitale Technologien und Dienstleistungen untergraben", so Scherak.

"Es besteht die Gefahr, dass Sicherheitslücken bewusst offen gelassen werden, die dann von Kriminellen ausgenutzt werden könnten. Die Bundesregierung muss sich daher vehement auf europäischer Ebene gegen diese Pläne einsetzen und eine grundrechtskonforme Lösung erkämpfen. Die ausufernden Überwachungsfantasien sind mit der liberalen Demokratie unvereinbar, ÖVP und Grüne müssen sich daher mit aller Kraft gegen eine flächendeckende Überwachung aller digitalen Endgeräte wehren."

Grundrechtsorganisation warnt vor Generalverdacht

Heftige Kritik kommt auch von Epicenter Works, einer Organisation für digitale Grundrechte mit Sitz in Wien. "Vertrauliche Kommunikation ist dem BMI wohl ein Dorn im Auge. Es stellt den Einsatz von Verschlüsselung und damit unser aller private Kommunikation unter Generalverdacht und kann Sicherheit angeblich nur gewähren, wenn jede einzelne Nachricht, jedes Foto oder Video aus der Familiengruppe durchleuchtet wird", erklärt Geschäftsführer Thomas Lohninger gegenüber dem STANDARD. "So eine gefährliche anlasslose Massenüberwachung zu fordern ist ein Frontalangriff auf unsere Grundrechte und zeigt die problematischen Prioritäten der ÖVP."

Ministerium will nur im "schwerstkriminellen Bereich" mitlesen

Das Innenministerium betont, dass auch ein Vertreter des grün geführten Justizministeriums der Going-Dark-Gruppe angehöre. Man bleibt auf dem Standpunkt, dass Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung von Extremisten und Schwerstkriminellen mehr Befugnisse brauchten. "Während etwa die Kommunikation von Terrorverdächtigen über Telefone überwacht werden kann, ist dieselbe Kommunikation auf beispielsweise Messengerdiensten am Smartphone rechtlich nicht möglich", heißt es aus dem Innenministerium.

Und: "Die DSN (im Bereich Terrorismus) und das Bundeskriminalamt (im Bereich organisierte Kriminalität) warnen eindringlich davor, dass diese enorme Sicherheitslücke nicht nur die Ermittlungen gefährdet, sondern auch und vor allem eine enorme Gefahrenquelle für die Bevölkerung und die nationale Sicherheit darstellt – zum Beispiel wenn ein Anschlag ausschließlich über diese Messenger geplant wird, wo die Polizei nicht 'mitlesen' darf."

Außerdem betont ein Sprecher des Ressorts von Innenminister Gerhard Karner, dass man nur im schwerstkriminellen Bereich mitlesen wolle, etwa bei Terrorismus, Kapitalstraftaten und organisierter Kriminalität. Das Problem: Verschlüsselung kann man nicht "ein bisschen" und nur bei Schwerstkriminellen aufheben. Entweder sind Nachrichten verschlüsselt oder eben nicht. Darauf heißt es aus dem Innenministerium: "Die konkrete technische Umsetzung kann erst nach einer Anpassung der rechtlichen Grundlagen genau beschrieben werden, da sich diese nach den im Gesetz vorgegebenen Befugnissen richtet."

Warnung vor derartigen Plänen

Erst Anfang Juni warnte der ehemalige Präsident von Estland, Toomas Hendrik Ilves, vor einer Aufhebung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und nannte derartige Pläne einen "fatalen Fehler". Man öffne damit feindlichen Staaten wie Russland die Tür zur eigenen Kommunikation. "Damit geben Sie Putin den Schlüssel zum Königreich", warnte Ilves und nannte derartige Pläne einen "Albtraum". (Peter Zellinger, 12.6.2024)