Wilde Szenen spielten sich vergangene Woche auf den Straßen von Buenos Aires ab: Autos brannten, Sicherheitskräfte setzten Schlagstöcke und Tränengas ein. Auslöser war der Unmut über die Verabschiedung eines umfassenden Gesetzespakets im Senat. Mit der Abrissbirne will der Präsident des Landes, der selbsternannte "Anarchokapitalist" Javier Milei, dem Staat den Garaus machen, um die marode Wirtschaft des Landes zu sanieren.

Vor dem Kongressgebäude stehen zahlreiche Sicherheitskräfte in voller Montur, in der Mitte ein gepanzertes Fahrzeug. Vor ihnen wurde ein kleines Feuer auf dem Asphalt entzündet, weiter vorne kniet eine Person in Zivil.
Die Verabschiedung des Gesetzespakets im Senat am 12. Juni war von Ausschreitungen überschattet.
REUTERS/Mariana Nedelcu

Die steckt in einer veritablen Krise: Im Mai meldete die Statistikbehörde Indec eine Jahresinflation von fast 290 Prozent, der höchste Wert seit den 1990er-Jahren. Laut einer Studie der Päpstlichen Katholischen Universität Argentiniens (UCA) lagen die Armutszahlen in den ersten drei Monaten des Jahres bei fast 55,5 Prozent – das sind rund 25 Millionen Menschen. Fast 18 Prozent der Haushalte konnten ihre Grundbedürfnisse an Nahrung und Energie nicht mehr decken. "Viele Familien haben Schwierigkeiten, ihren Kühlschrank zu füllen", sagte die bekannte Intellektuelle Maristella Svampa in einem Gespräch mit der APA letzte Woche.

Kein Geld für Sozialleistungen, aber für Großinvestoren

Den "Presidente de la Nación" ficht das nicht an: "No hay plata", es ist kein Geld da, kündigte Milei in seiner ersten Rede als Präsident im Dezember 2023 an. Sein "Schock", zu dem es keine Alternative gebe, beinhaltet unter anderem drastische Einschnitte in den Sozialstaat, Steuervergünstigungen für Großunternehmen, Reformen des Arbeitsrechts und Privatisierungen.

Großinvestoren wird der rote Teppich ausgerollt, wie der Politikwissenschafter Tobias Boos von der Universität Wien im Gespräch mit dem STANDARD erklärt: Wer mehr als 200 Millionen Dollar ins Land bringt, für den werde das argentinische Recht für 30 Jahre ausgehebelt, Streitigkeiten landen vor einem internationalen Schiedsgericht. Die Konzerne bekämen Zugriff auf Wälder, den Agrarsektor und den Bergbau – und das, obwohl die Minen laut Verfassung eigentlich Pfründe der Provinzen seien, so der stellvertretende Leiter des Forschungsverbunds Lateinamerika in Wien.

Der argentinische Präsident Javier Milei steht an einem Rednerpult.
Mit einem Kahlschlag im Staat will Argentiniens Präsident Javier Milei (hier bei einer Rede in Buenos Aires am 5. Juni) die wirtschaftlichen Probleme seines Landes lösen.
REUTERS/Agustin Marcarian

Nachdem das – deutlich abgespeckte – Gesetzespaket mit einer hauchdünnen Mehrheit durch eine Stimme der Vizepräsidentin Victoria Villarruel den Senat passierte, gab der Internationalen Währungsfonds (IWF) prompt eine Hilfszahlung von 800 Millionen Dollar frei, sehe man darin doch "Bemühungen zur Schaffung einer wohlhabenderen, stabileren und marktorientierten Wirtschaft", wie die IWF-Chefin Kristalina Georgieva am Freitag auf X schrieb.

"Nur auf Twitter schimpfen" reicht nicht

Dass Mileis Programm tatsächlich zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Misere führen kann, daran hat Politologe Boos große Zweifel. Zwar ist die Inflation in den Monatswerten zuletzt auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahren gesunken, aber das seien fiskalpolitische "Zaubertricks", meint Boos. Antworten auf die Frage, woher der Wohlstand kommen solle, bleibe die Regierung aber schuldig. "Nur auf Twitter zu schimpfen", wie es Milei gerne tue, reiche nicht aus. Die größte Sorge der Menschen in dem lateinamerikanischen Staat sei ohnehin schon nicht mehr die Inflation, sondern die Jobsicherheit.

Gegen kritische Stimmen gehe Milei jedoch hart vor. Proteste würden zunehmend kriminalisiert, die Sicherheitskräfte hätten unter Milei freie Hand, so der Argentinien-Experte. Das zeige unter anderem eine Reise der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich nach El Salvador. Dort hat Präsident Nayib Bukele im Kampf gegen Drogen und Bandenkriminalität umstrittene Massengefängnisse bauen lassen, die Bullrich am Samstag besuchte – und lobte. Dennoch, glaubt der Politologe, seien solche Gefängnisse in Argentinien nicht zu erwarten.

Lehrkräfte demonstrieren vor dem Kongressgebäude mit Plakaten und argentinischen Flaggen.
Gegen die radikalen Programme gibt es zahlreiche Proteste, im Bild eine Demonstration von Lehrkräften vor dem Kongressgebäude im Rahmen eines 24-stündigen landesweiten Streiks am 23. Mai.
AP/VICTOR R. CAIVANO

Während Milei seinen Kahlschlagkurs fortsetzt, regt sich Widerstand, wie ein Generalstreik Anfang Mai zeigte, bei dem die Gewerkschaft CGT weite Teile des öffentlichen Nahverkehrs lahmlegte. Wichtig für den Widerstand seien aber auch Intellektuelle wie Svampa, die in der argentinischen Gesellschaft nicht als "Gelehrte im Elfenbeinturm" wahrgenommen würden, erklärt Boos. Kein Zufall also, dass auch bei der Forschungsträgergesellschaft Conicet stark gekürzt wird. Doch sogar in der wichtigen konservativen – und an sich regierungsfreundlichen – Tageszeitung La Nación gebe es inzwischen erste kritische Äußerungen zu Mileis Programm, so der Politikwissenschafter.

Zwischenwahlen als Gradmesser

Die letztlich erfolgreiche Abstimmung wertet der Politologe als knappen Sieg, für den es aber lange gedauert habe. Es sei daher davon auszugehen, dass Milei noch länger im Amt bleiben werde, auch wenn sich die Machtverhältnisse innerhalb seiner Gefolgschaft verlagert hätten. Ob die Regierung jedoch tatsächlich ein inhaltliches Programm auf die Beine stellen könne, sei fraglich. Die Zwischenwahlen Ende 2025 könnten ein guter Gradmesser dafür sein, was die Mehrheit der argentinischen Bevölkerung von Mileis Programm hält, so der Politologe.

Wenn sich die Krise zuspitze, dürfe man aber auch die Organisationsfähigkeit von Leuten, die sich "selbst helfen", nicht unterschätzen. Es sei gut möglich, dass "Gruppen Supermärkte ausräumen", spielt der Politikwissenschafter auf Plünderungen an. (Noah Westermayer, 19.6.2024)