Annäherung an die Vergangenheit: der vielfach prämierte Film "Flee".

Foto: Stadtkino

Bei den European Film Awards von 2021 hat Flee nicht nur in der Kategorie bester Animationsfilm, sondern auch in jener des besten Dokumentarfilms gewonnen. Das zeigt bereits die Ausnahmeposition von Jonas Poher Rasmussens Werk in einer Gattung an, die im regulären Kinobetrieb immer noch stark mit Kinderunterhaltung verbunden ist. Der dänische Regisseur hat sie jedoch für ein Fluchtdrama genutzt. Die Grundlage dafür lieferte ihm die Lebensgeschichte eines alten Schulfreundes, die bis in die Gegenwart hinein nachwirkt.

NEON

Man könnte sie so zusammenfassen: Mitte der 1980er-Jahre floh Amin mit seiner Familie aus Afghanistan. Zuerst gelangten sie nach Moskau, mithilfe eines Schleppers zog er dann allein weiter nach Dänemark, wo er den Status eines Asylanten erlangt hat.

Erinnerungen neu belebt

Amins Geschichte ist in Wahrheit allerdings weitaus vertrackter, komplizierter und überraschender – so wie das Leben selbst. Erst heute vermag er, mittlerweile ein international erfolgreicher Akademiker, über diese traumatische Zeit offen Auskunft zu geben; die Animation, die auf aufgezeichneten Interviews beruht, aber auch Erinnerungen zeichnerisch reaktiviert, bietet ihm auch Schutz in der Anonymität. Denn Amin musste sich in Dänemark mit einem Trick dazu verhelfen, seinen Asylstatus nicht zu gefährden. Er gab sich als Waise aus.

Die dramatische Fluchtgeschichte ist aber nur eine Folie von Amins Identität, die der Film behandelt. Es geht auch um den inneren Entwicklungsprozess, der zu seinem heutigen Dasein als homosexueller Mann geführt hat. Rasmussen gelingt es, diese zwei Ebenen zu verknüpfen, ohne dass Flee zum überladenen Themenfilm wird. Es bleibt Raum für poetische Einschübe, sogar für Ironie, weil die Animation auch dem Ausdruck verleiht, was nicht gesagt werden kann. (Dominik Kamalzadeh, 20.1.2022)