Im Jahr 2017, in dem Sebastian Kurz die Kanzlerschaft übernahm, wurde ich 68, und in Wien fand der letzte Landesparteitag statt, bei dem ich als Vorsitzender kandidierte. Renate Brauner, Michael Ludwig und ich selbst bekamen viele Streichungen.

Ich kam auf nur knapp mehr als 77 Prozent der Delegiertenstimmen, Michael Ludwig gar nur auf 68 Prozent. Wenn man es gewohnt war, dass man bei solchen Abstimmungen auf dem Parteitag nie unter 97 Prozent gelegen war, ist das natürlich schmerzlich. Waren das Fraktionskämpfe? Ich glaube, es waren eher emotionell als inhaltlich begründete Verwerfungen.

24 Jahre war Häupl Wiener Bürgermeister. In "Freundschaft" blickt er (mit Herbert Lackner) auf 35 Jahre als Berufspolitiker zurück, im Schlusskapitel beschreibt er seinen "Abschied".
Foto: Gianmaria Gava

Was mich daran störte, war, dass sich die Debatten eigentlich immer in den Couloirs, in den Gängen vor und hinter den Sitzungszimmern, abspielten. Wir hatten natürlich inhaltliche Diskussionen, aber die hatte es in der Sozialdemokratie immer gegeben, und das ist ja auch gut so. Und natürlich gab es zu so wichtigen Themen wie der Flüchtlingsfrage unterschiedliche Auffassungen. (...)

Es gab auch zu Wirtschaftsfragen, bei Themen der Arbeitswelt und der Bildungspolitik einstimmige Beschlüsse, an inhaltlicher Übereinstimmung mangelte es also nicht. Dennoch lebten manche in der Wahlzelle ihre Emotionen aus. Natürlich spielte da auch herein, dass man wusste, der 68-jährige Vorsitzende und Bürgermeister, der zu dem Zeitpunkt schon mehr als 20 Jahre im Amt war, wird in absehbarer Zeit seine Funktion zurücklegen. Dass da versucht wurde, bestimmte Weichen zu stellen, ist klar. Diese Gemengelage führte dann zu einer Entwicklung, von der ich bis heute überzeugt bin, dass sie richtig war: dass es zwei Kandidaten gab, die sich um meine Nachfolge bewarben.

Gräben zuschütten

Die beiden Kandidaten, Michael Ludwig und Andreas Schieder, gingen sehr klug und erwachsen miteinander um, was ein Zeichen für demokratische Reife war. (...) Wie wir heute wissen, war die Art und Weise, wie die beiden das austrugen, der Garant dafür, dass nachher die Gräben wieder zugeschüttet werden konnten und sich die Situation völlig entspannte. Die Folge war das ausgezeichnete Wahlergebnis vom Oktober 2020. (...)

Michi sagte einmal in einem Interview, das wir miteinander gaben und in dem man ihm vorwarf, er habe nicht "meinen Schmäh": "Weniger Schmäh zu haben als Michael Häupl ist keine Schande." Peter Kaiser, den ich lange kenne und überaus schätze, ist auch nicht gerade ein Entertainer, aber er ist ein exzellenter Landeshauptmann, und er kommt bei den Wählern großartig an.

Als Wiener Bürgermeister ist es ganz gut, wenn man Schmäh hat, aber vom Schmäh allein kann man nicht leben. Und gerade in Zeiten der Pandemie, und den daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, kommt die ruhige Art, mit der Michael Ludwig die Stadt führt, sehr gut an.

Sager als wichtiges Instrument

Bei mir gab es, was den Schmäh betrifft, schon eine gewisse Erwartungshaltung. Man wartete geradezu auf Sager wie jenen von den "mieselsüchtigen Koffern". Das ist übrigens der Spruch, auf den ich am wenigsten stolz bin, weil er doch etwas beleidigend war. Eine ganz andere Geschichte waren andere Sager – wie jener nach dem Besiegeln des Koalitionsübereinkommens mit den Grünen: "Man bringe den Spritzwein." Ich rief nicht nach Champagner oder nach teurem italienischen Rotwein, sondern nach einem weißen Spritzer, der ein ziemlich wienerisches Getränk ist. Das hat mir niemand übelgenommen.

Sager dieser Art sind ein wichtiges Instrument in der Politik. Stellt man sich auf einem Kongress vor die Partei und hält eine programmatische Rede, hat man spätestens nach zehn, zwölf Minuten die Menschen verloren. Sie hören dir nicht mehr zu. Daher tut man gut daran, die Aufmerksamkeit der Leute immer wieder zurückzuholen, wenn man eine inhaltliche Botschaft loswerden will. (...)

Ideologische Flachwurzler

Der Plan von Sebastian Kurz ging voll auf. Er wurde Kanzler und machte eine Koalition mit der FPÖ. Seine Positionen, etwa in der Flüchtlingsfrage, unterschieden sich von jenen der Freiheitlichen ohnehin nur in Details. Dass er versuchte, mit all dem zu brechen, wofür die ÖVP stand, verstehe ich sogar bis zu einem gewissen Grad, diese war ja nicht eben mit Erfolgen verwöhnt. Heute wissen wir, mit welchen üblen Tricks er den Weg ins Kanzleramt geschafft hat.

Ich hatte die Freunde in der Bundes-SPÖ zuvor über den Wiener Sebastian Kurz, der die ÖVP übernommen hatte, informiert, wobei das nicht besonders hilfreich war. Ich kannte ihn zwar aus seiner Zeit im Wiener Gemeinderat, aber dort trat er nicht wirklich hervor. Die Wahlkampfaktivitäten seiner Jungen ÖVP mit diesem Geilomobil waren noch das Augenscheinlichste, was von ihm zu sehen war.

Programmatisch Inhaltliches war nie auszunehmen. Damals, in seiner Wiener Zeit, war es egal, das musste sich die Junge ÖVP mit ihm ausmachen. Wenn sie einen ideologischen Flachwurzler als Chef wollte, war das ihre Angelegenheit, das war mir egal. Aber schon die Art seiner Machtübernahme in der ÖVP wies auf einen bestimmten Charakter hin. Da wurde vieles absehbar, auch wenn noch nicht alle Details bekannt waren.

Kerns Abgang

Bei dieser Wahl des Jahres 2017 hatte die SPÖ ein kleines Plus vor dem Ergebnis, weil sie in Wien den Grünen viele Stimmen abgenommen hatte. Seit dieser Wahl ist ziemlich klar, dass die Grünen und die SPÖ auf der einen und die FPÖ und die ÖVP auf der anderen Seite kommunizierende Gefäße sind.

Die Folge dieser Wahlniederlage der SPÖ – die es ja war, weil sie auf Platz zwei zurückgefallen ist – führte zum doch recht überraschenden Ausscheiden Christian Kerns aus der Politik. Ja, die SPÖ hatte den Kanzler verloren, aber sie hatte immerhin ein Plus bei der Wahl, das hatte es schon viele Jahre lang nicht gegeben. Aber Kern sagte, er habe die Kanzlerschaft verloren, und deshalb gehe er jetzt. Meinem Politikverständnis widersprach das völlig. Ich verstand es nicht. Überdies erfuhren wir es alle aus den Medien.

Natürlich gab es dann die üblichen Sitzungen. Die Art und Weise seines Abgangs wurde heftig kritisiert. Dann kam noch dazu, dass er sagte, er strebe die Spitzenkandidatur der europäischen Sozialdemokraten bei den Europawahlen an, was vollkommen verrückt, weil aussichtslos war. Es ist eine Geschichte, die auch für mich persönlich schmerzhaft ist, denn ich glaube, dass Kerns Kanzlerschaft vom Prinzip her nicht schlecht angelegt war.

Nicht nur Loyalitätsgründe

Pamela Rendi-Wagner war nicht seine logische Nachfolgerin, aber sie war ein allseits goutierter Vorschlag, weil sie einfach die erste Frau in der Geschichte der Sozialdemokratie war, die Bundesparteivorsitzende wird. Sie hatte eine sehr gute Figur als Gesundheitsministerin gemacht, war aber natürlich nicht eine mit allen Wassern der sozialdemokratischen Politik und Bürokratie Gewaschene. Ich fand sie immer gut.

Wenn manche Freunde meinten oder immer noch meinen, sie komme zu den Menschen "nicht rüber", erlebe ich das zu einem erheblichen Teil anders. Mag schon sein, dass sie insbesondere im Männervolk auf dem Land nicht rasend reüssiert. Das Männervolk auf dem Land kenne ich aus den Dorfwirtshäusern. Klar. Aber dort wird wenigstens anerkannt, dass sie eine attraktive Frau ist. Das ist bei weitem nicht das, was ich mir als Reaktion wünschen würde, aber immerhin. (...)

Viele haben ihre parteiinterne Befragung über ihre Vorsitzführung nicht goutiert. Nachdem sie das entschieden hatte, gab es für mich nicht nur Loyalitätsgründe, sie dabei zu unterstützen – auch durch Öffentlichkeitsarbeit –, sondern ich war inhaltlich absolut überzeugt davon. Ich stehe dazu: Pamela Rendi-Wagner ist eine gute Vorsitzende.

Weitergabe der Macht

Ich bin im Mai 2018, nach mehr als 23 Jahren, aus dem Amt des Bürgermeisters geschieden. Am Tag nach der Wahl Michael Ludwigs zum Bürgermeister kam ich noch einmal ins Büro. Es gab Verabschiedungszeremonien mit Blasmusik und allem, was dazugehört. Danach übergab ich Michael Ludwig die Schlüssel des Rathauses. Sie sind auch tatsächlich die Schlüssel zu allen Räumlichkeiten, über die nur der Bürgermeister, der Magistratsdirektor und die Rathauswache verfügen.

Trotz meiner langen Verweildauer in der Politik habe ich mein Ausscheiden nicht als tiefen Lebenseinschnitt empfunden. Mir war von Anfang an bewusst, dass auch ein solches Berufsleben einen Anfang und ein Ende hat. Man bekommt auf Zeit Macht verliehen – und die per Verfassung dem Bürgermeister von Wien zustehenden Rechte sind gewaltig. Aber das hat einmal ein Ende, und man gibt diese Macht an den Nachfolger weiter. Ich hatte ja nie angenommen, dass meine Amtszeit so lange dauern würde. Nur Josef Georg Hörl, Bürgermeister zwischen 1773 und 1804, war länger im Amt als ich. Aber der musste auch nicht gewählt werden.

Nein, der Tag der Übergabe war für mich nicht erschreckend. Ich übergab Michael Ludwig die Schlüssel, ging in den Hof und fuhr meiner Frau ins Wochenende nach. Schon am ersten Abend ließ ich mein Handy demonstrativ im Wohnzimmer liegen und nahm es nicht, wie seit mehr als 20 Jahren üblich, mit ins Schlafzimmer. Es war für mich ein gewisser Akt der Befreiung.

Umstellungsprozesse

Nach diesem Mai, in dem ich wieder Privatperson wurde, kam bald der Sommer, und wir reisten viel. Umstellungsprozesse gab es dann natürlich, als ich meine nunmehr intensivere Tätigkeit als Präsident des Wiener Wissenschaftsfonds aufnahm.

Im folgenden Frühsommer 2019 unterzog ich mich in Wien einer Routineuntersuchung. Ich bat die Ärzte, eine MRT vorzunehmen, weil ich aufgrund von Kreuzschmerzen dachte, einen Bandscheibenvorfall erlitten zu haben. Aber die Ärzte gaben Entwarnung: Ich hatte keinen Bandscheibenvorfall, sondern einfach dieses typische Leiden, das durch tausende Stunden in Sitzungen, durch Übergewicht und zu wenig Training der Rückenmuskulatur hervorgerufen wird. Das Kreuzweh war einfach da, weil ich mich nicht hinreichend um mich selbst gekümmert hatte.

Aber bei der Untersuchung sah man zufällig auch diesen veränderten Polypen an der Niere. Der Verdacht bestätigte sich bald danach durch die Histologie: Ich hatte Krebs. Es war nichts davon zu spüren, ich hatte keine Schmerzen und keine Beschwerden. Den Fachärzten, mit denen ich mich beriet, sagte ich: Meinen Siebziger im September möchte ich gern noch in vertrauter Umgebung ordentlich feiern. Das tat ich auch.

Anfang Oktober ging ich ins Krankenhaus, im Bewusstsein, eine Woche später wieder draußen zu sein. Es wurden dann drei Monate. Die Operation verlief gut, aber dann bekam ich eine Entzündung an der inneren Wunde, die eine Fülle von Problemen nach sich zog. Ich hatte ziemlich alle Komplikationen, die höchstens in einem Prozent der Fälle auftreten.

Ich denke heute anders

Michael Häupl, "Freundschaft". 24,– Euro / 208 S. Brandstätter, 2022
Cover: Brandstätter Verlag

Wenn du da am Abend im Einzelzimmer des Krankenhauses liegst, denkst du schon darüber nach, welche Lächerlichkeiten dich früher furchtbar aufgeregt haben. Manchmal nahm mich die Zeit im Spital psychisch mit, obwohl mir die ärztlichen Freunde ein hohes Ausmaß an psychischer Resilienz bescheinigten. Und manchmal war es sehr hart. (...)

Meine Frau, eine wirklich erfahrene Ärztin, hat mir unablässig Mut zugesprochen, aber manchmal hatte ich schon das Gefühl, dass auch sie unsicher wird. Wenn sie dann wieder gegangen war, dachte ich mir: Sie ist so lieb und kümmert sich hinreißend um mich – aber dennoch kriecht diese Verzweiflung wieder hoch. Ich glaube nicht, dass die Krankheit psychische Defekte in mir hinterlassen hat, aber ich denke heute über Dinge anders.

Am 28. Dezember 2019 ging ich nach drei Monaten im Krankenhaus erstmals wieder ins Freie. Wobei "ging" eine leichte Übertreibung ist. Ich schaffte es bei mir zu Hause nur mit großer Mühe in den zweiten Stock – wir haben keinen Lift. Statt der früher üblichen 115 Kilo hatte ich nun 83. Das ist der positive Teil der Geschichte.

Im Jänner ging ich für drei Wochen auf Reha, wo es im Prinzip darum ging, einen Wiederaufbau des Körpers zu schaffen. (...) Von neun Uhr vormittags bis halb fünf nachmittags wurde "am Körper" gearbeitet und nur gnadenhalber eine Mittagspause eingelegt. Ich ging mit 95 Kilo hinaus, es war also wieder Muskelmasse aufgebaut. Und dieses Gewicht halte ich bis jetzt – plus/ minus ein, zwei Kilo. Jetzt geht es mir gut.

Der Sommer war schon wieder schön. Wir waren auf dem Berg wandern. Ich bin ausgeheilt, es ist alles gut. Als Corona kam, saß ich eineinhalb Monate lang zu Hause in einer selbstgewählten Quarantäne. Das tat meiner Bibliothek gut. Ich durchforstete alles, kann aber Bücher nicht wegwerfen. Einige Schachteln sind es doch geworden. (Michael Häupl, ALBUM, 29.1.2022)