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Laut Expertinnen und Experten wächst jedes sechste Kind in Österreich mit einem psychisch erkrankten Elternteil auf.
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"Wenn Eltern psychisch krank sind, ist für die Kinder jeder Tag unvorhersehbar. Es gibt oft keine regelmäßigen Mahlzeiten, weil Papa es nicht geschafft hat einzukaufen und zu kochen. Oder Mama, in der Früh aufzustehen, um die Kinder fertig zu machen und ein Frühstück herzurichten. Es fehlt also der verlässliche Tagesablauf, der Alltag gerät durcheinander. Was auch oft passiert: dass Eltern den Kindern ein Versprechen machen, wie einen schönen Ausflug am Wochenende, und ihr Versprechen dann nicht einhalten. Die Kinder erleben also, dass sie nicht auf das, was ihnen gesagt wird, vertrauen können.

Es kann aber auch vorkommen, dass Eltern sehr aktiv sind, den ganzen Tag über mit den Kindern draußen unterwegs – und darüber ganz vergessen, dass das Kind Hunger haben könnte oder es wichtig wäre, einmal nach Hause zu fahren.

Zu uns kommen Eltern mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen, die meisten sind Mütter. Das liegt daran, dass Väter öfter nicht mehr Teil des Familienlebens sind, etwa weil sie nach einer Trennung von zu Hause ausgezogen sind. Das Häufigste sind depressive Erkrankungen aber auch Angststörungen, Panikattacken oder Schizophrenie kommen vor. Jede Erkrankung ist anders und wirkt sich im Alltag anders aus. Was aber bei allen gleich ist: Dass sich die Kinder alleine gelassen fühlen. Sie haben das Gefühl, Mama und Papa emotional nicht erreichen zu können, einfach nicht zu ihnen durchzukommen.

Meist entwickeln sie mit der Zeit ganz feine Antenne und die richten sie immer mehr nach außen, auf ihre Eltern. Sie achten ganz genau darauf: Wie schaut die Mama heute? Wie hat der Papa heute das Haus verlassen? Sie machen das, um sich darauf einstellen zu können, um sich zwischen den Auf und Abs zurechtzufinden. Oft merken sie schon früher als die Eltern selbst, wenn wieder eine schlechte Phase bevorsteht.

Schon sehr junge Kinder übernehmen oft viel Verantwortung und erledigen Dinge, die die Eltern nicht schaffen. Sie machen den Haushalt oder versorgen Geschwister. Sie werden selbst in die Elternrolle gedrängt, in der Fachsprache spricht man von 'Parentifizierung'. Das ist eine Rollenumkehr, bei der die Kinder auf einmal für die Eltern sorgen. Ihre eigenen Bedürfnisse stellen sie hintan. Unsere Aufgabe ist es dann, die feinen Antennen der Kinder wieder auf sich selbst zu richten. Wieder wahrzunehmen: Was brauche ich eigentlich?

Bin ich schuld?

Außerdem ist eine psychische Erkrankung für Kinder oft so unverständlich, dass sie Schuldgefühle entwickeln. Sie machen sich selbst dafür verantwortlich, wie Mama oder Papa sich fühlen. Sie denken: Die Mama schaut traurig, der Papa spricht nicht, möglicherweise ist das, weil ich eine schlechte Note in der Schule habe oder mein Zimmer nicht aufgeräumt habe.

Deshalb ist es wichtig, dass über die Erkrankung gesprochen wird. Leider sind psychische Erkrankungen nach wie vor ein Tabuthema. Aber das Schweigen macht es den Kinder schwer, denn sie spüren etwas, aber es gibt keine Worte dafür. In diesem Schweigen lässt man sie alleine. Ich kann gut verstehen, dass die Eltern Angst haben, ihr Kind damit noch mehr zu belasten. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Spürt das Kind etwas, kann es aber nicht einordnen, ist es stark verunsichert.

Unser Anliegen ist es deshalb, die Familien zu ermutigen, ein paar Sätze für die Erkrankung zu finden. Eine bipolare Störung beispielsweise könnte man als eine Achterbahnfahrt der Gefühle beschreiben: von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Man kann auch sagen, dass Papas Seele Schnupfen hat oder Mamas "Monster" wieder da ist. Die Kinder sollten lernen: Es geht um eine Krankheit und die Seele kann ebenso krank sein wie der Körper. Viele Kinder haben ja Erfahrungen mit Krankheiten und wissen, dass es Medikamente dagegen gibt, dass man etwas tun kann. Zu wissen, dass es auch für die Krankheit von der Mama eine Therapie gibt, entlastet sie.

Es ist auch wichtig, dass sie eine andere erwachsene Bezugsperson haben, wenn es Mama oder Papa nicht gut geht. Das kann der gesunde Elternteil sein, aber auch Nachbarn, Freunde oder eine Tagesmutter. Es sollen einfach Menschen sein, die stabil und für das Kind da sind.

Oft sind es die Elementarpädagoginnen, Lehrerinnen oder Lehrer, die merken, dass in der Familie etwas nicht stimmt: Die Kinder kommen zu spät, haben keine Jause mit, keine Regenstiefel, obwohl es draußen regnet. Andere Male sind es Nachbarn oder Freunde. Jedenfalls ist es wichtig, dass diese Menschen im näheren Umfeld etwas sagen, dass sie die Eltern fragen, ob sie Hilfe brauchen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Denn darunter, dass es alle wussten und keiner etwas gesagt hat, können Kinder ihr Leben lang leiden.

Sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen, ist für Eltern eines der schwierigsten Dinge. Psychische Erkrankungen betreffen den Kern unserer Persönlichkeit, deshalb verunsichert uns das so. Die Eltern bemühen sich lange, sie wollen das Beste fürs Kind, aber irgendwann gibt es dann einen Punkt, wo sie merken: Es geht nicht mehr, ich schaff das nicht mehr! Sie können nicht mehr schlafen, der Appetit lässt nach oder nimmt stark zu. Viele beschreiben auch eine innerliche Leere. Wenn selbst die Freude am Kind verloren geht und es nur noch als anstrengend empfunden wird, ist der Zeitpunkt gekommen, um zu sagen: Jetzt muss ich wirklich etwas tun!

Mehr Lebendigkeit

Wir begleiten die Familien meist über 15 bis 20 Einheiten. Bei manchen reicht es aber auch aus, wenn sie drei Mal zu uns kommen. In den Gesprächen mit Psychologinnen und Psychotherapeuten geht es dann darum, die Krankheit zum Thema zu machen. Dann stärken wir die Kinder und Jugendlichen. Wir bauen für sie sogenannte 'Inseln', auf denen es mal nur um sie geht, um ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle. Denn die psychische Erkrankung nimmt in einer Familie ja oft ganz viel Raum ein und da ist es dann unsere Aufgabe, dem Kind wieder Raum zurückzugeben. So kommt dann auch ganz schnell die Unbeschwertheit, die Lebendigkeit zurück.

Ich versuche auch, die Stärken der Familie zu betonen. Es gibt ja in jeder Familie Dinge, die gut laufen. Ich sammle mit den Kindern jene Momente, in denen es dem erkrankten Elternteil gut geht und in denen die Familie etwas Schönes zusammen macht. Zum Beispiel: Meine Mama macht die besten Palatschinken, wenn es ihr gut geht. Oder: Wir spielen alle zusammen Uno oder gehen wandern, wenn der Papa fit ist.

Wir arbeiten nicht nur mit Familien mit älteren Kindern, sondern auch mit Babys und ihren Eltern. Bei ihnen geht es vor allem darum, den Bindungsaufbau zu unterstützen, der manchmal durch die psychische Erkrankung erschwert ist. Für eine depressive Mutter ist es oft schwierig, Blickkontakt zu halten oder viel mit dem Kind zu sprechen. Wir arbeiten mit Übungen, leiten die Eltern beim Umgang mit dem Kind an und bestärken sie.

Am Ende gibt es immer ein Abschlussgespräch, in dem wir einen Krisenplan entwickeln: Was kann man tun, wenn es wieder schwieriger wird? Nach drei Monaten machen wir einen Nachsorgetermin. Ich rufe dann nochmals bei der Familie an und frage, wie es ihnen geht, was in der Zwischenzeit so passiert ist und ob sie etwas brauchen.

Manchmal rufen auch die Kinder, Jahre später, selbst an – zum Beispiel, wenn sie von zu Hause ausziehen. Dann entstehen bei vielen wieder Schuldgefühle, man spricht da von sogenanntem 'separation guilt', einer Trennungsschuld. Die jungen Erwachsenen fragen sich: Darf ich wirklich weggehen, wenn es der Mama so schlecht geht? Darf ich in einem Studentenheim wohnen, wenn ich weiß, dass meine kleine Schwester daheim ist? Mein Leben zu leben, wenn es dem Papa nicht gutgeht – erlaube ich mir das? Das ist für sie ein großer Druck. Wir bestärken die jungen Menschen dann sehr darin, ihr Leben zu leben. Viele brauchen diese Bestärkung, dass es jetzt auch einmal um sie gehen darf."