In vielen Bereichen sind Reformen zwingend notwendig, in anderen könnte Österreich durch mutige Schritte wieder zum Vorreiter werden.
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Die Welt befindet sich in einer tiefen Rezession – nicht wirtschaftlich, sondern rechtsstaatlich. Laut dem Rule of Law Index 2022 nahm die Rechtsstaatlichkeit global das fünfte Jahr in Folge ab. Betroffen sind davon 61 Prozent aller Staaten. Auch Österreich, das in Sachen Rechtsstaatlichkeit traditionell im weltweiten Spitzenfeld liegt, verlor im Vergleich zum Vorjahr zwei Plätze und liegt nun auf Rang elf.

Gute Noten bekommt das Land im Bereich der Strafjustiz. Vergleichsweise schlecht schneidet es dagegen in den Kategorien "Korruption" und "Offene Regierung" ab. Dort belegt Österreich im weltweiten Ranking nur noch den 18. bzw. den 20. Platz.

Dass Österreich im Rechtsstaatsindex zurückfällt, liegt freilich weniger daran, dass man hierzulande rechtliche oder faktische Rückschritte verzeichnet. Grund ist vielmehr, dass wichtige Gesetzesreformen seit Jahren aufgeschoben werden. Österreich sieht im Vergleich zu anderen Staaten zunehmend alt aus. Das Land gilt in vielen Bereichen nicht mehr als Vorbild, an dem sich andere orientieren, sondern als Nachzügler, der internationalen Standards nicht gerecht wird.

Paradebeispiel ist das Amtsgeheimnis, mit dem Österreich europaweit mittlerweile eine negative Ausnahmeerscheinung ist. Das neue Informationsfreiheitsgesetz wird von der Regierung dennoch weiter aufgeschoben. Ähnlich schlecht steht es um die Reform des Korruptionsstrafrechts, mit der Lücken beim Mandatskauf geschlossen werden sollen. Die angedachte Entpolitisierung der Staatsanwaltschaften lässt ebenfalls auf sich warten.

Die Abschaffung des Amtsgeheimnisses, die Reform des Korruptionsstrafrechts und der Umbau der Staatsanwaltschaften sind für den österreichischen Rechtsstaat mittlerweile Pflicht. Aber wie sieht es mit der Kür aus?

Serie: Österreich braucht dringend eine Kurskorrektur. Korruption sowie Freunderl- und Parteienwirtschaft widern die Menschen zunehmend an. Was müsste geschehen, wer muss aktiv werden und wie? In einer Serie widmet sich DER STANDARD
drängenden Fragen zur Zukunft unseres Landes.
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DER STANDARD hat in den Bereichen Strafrecht, Zivilrecht und Verwaltungsrecht jeweils drei Reformvorschläge ausgewählt, die Österreichs Rechtsstaat wieder zum internationalen Vorbild machen könnten. Vieles davon ließe sich mit einfachen Gesetzesänderungen umsetzen. Die Mehrzahl der Vorschläge ist zudem im Kern politisch unumstritten. Einzig Geld würden sie dem Staat kosten. Doch wo wären finanzielle Ressourcen besser aufgehoben als in einem modernen Rechtsstaat, dem Fundament unserer Demokratie?

Strafrecht

Entschädigung für Freigesprochene

Jahrelange Ermittlungsverfahren sind für Beschuldigte nicht nur eine psychische Belastung, sondern treiben sie mitunter auch in den finanziellen Ruin. Kommt es zu Einstellungen oder Freisprüchen, müssen Betroffene deshalb ausreichend entschädigt werden. Derzeit kann davon keine Rede sein: In Geschworenenverfahren ist der Kostenersatz mit 10.000 Euro begrenzt, in Schöffenverfahren mit 5000 Euro und vor Einzelrichtern mit 3000 Euro. Das deckt im Fall großer Verfahren oft nur einen Bruchteil der Ausgaben ab. Martin Balluch, der im umstrittenen Tierschützerprozess angeklagt war, blieb nach seinem Freispruch laut eigenen Angaben auf 500.000 Euro sitzen. Der Ersatz müsste deshalb deutlich angehoben werden. Orientieren könnte man sich dabei an den gesetzlichen Anwaltstarifen.

Kürzere Strafverfahren

Strafprozesse werden in Österreich "vergleichsweise schnell" abgewickelt, betonte das Justizministerium in einer Aussendung vergangenen Oktober. Ermittlungen würden durchschnittlich 3,6 Monate dauern. Inklusive Hauptverhandlung kämen Strafverfahren an Landesgerichten auf 4,2 Monate. Der gute Durchschnitt ändert allerdings nichts daran, dass sich einzelne Verfahren über Jahre ziehen. Dass Beschuldigte von Einspruchsrechten Gebrauch machten, ist nicht der einzige Grund dafür: Wie das Ibiza-Verfahren zeigt, sind Richterinnen und Richter bei riesigen Aktenkonvoluten mitunter auf sich alleine gestellt. Bahnen sich große Verfahren an, müssen sie daher mit ausreichend zusätzlichem wissenschaftlichen Personal ausgestattet werden, das flexibel zu- und abgezogen werden kann.

Moderner Maßnahmenvollzug

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Österreichs Maßnahmenvollzug europäischen Standards kaum gerecht wird. Die Unterbringung von psychisch kranken Menschen, die straffällig geworden sind, ist in der aktuellen Form nicht mehr zeitgemäß. Das sieht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg so, der Österreich bereits mehrfach verurteilt hat. Eine Reform, die die Regierung im November ankündigte, soll verhindern, dass Menschen im Maßnahmenvollzug landen, die dort eigentlich nicht hingehören. Das wird allerdings nicht genügen: Das System krankt vor allem daran, dass Untergebrachte nicht ausreichend psychiatrisch betreut werden. Grund dafür ist unter anderem, dass Betroffene keinen Anspruch auf Behandlungen haben.

Zivilrecht

Niedrigere Gerichtsgebühren

Österreichs Gerichte arbeiten kostendeckend. Der Staat muss dem Justizsystem nur im Bereich der Haftanstalten Geld zuschießen. Grund dafür sind die vergleichsweise hohen Gebühren, die europaweit mittlerweile einen Rekordwert erreicht haben. Jenen Menschen, die am Existenzminimum leben, greift der Staat mit der sogenannten Verfahrenshilfe unter die Arme. Alle anderen, die nicht versichert sind, müssen sich dagegen gut überlegen, ob sie das Risiko eines Prozesses eingehen. Das macht sich vor allem dann bemerkbar, wenn Einzelpersonen gegen finanzstarke Unternehmen klagen. Hohe Gerichtsgebühren treiben die Kluft zwischen "Recht haben" und "Recht bekommen" auseinander. Niedrigere Kosten würden den Zugang zu Gericht einfacher und für jedermann leistbar machen.

Schutz gegen Slapp-Klagen

In Österreich hat ein Phänomen Einzug gehalten, das man bisher vor allem aus den USA kannte: sogenannte Slapp-Klagen, die an sich aussichtslos sind, aber dazu dienen, Aktivistinnen und Aktivisten einzuschüchtern und kritische Berichterstattung zu verhindern. Die Europäische Kommission ist sich der Problematik bewusst und hat jüngst den Vorschlag gemacht, Einschüchterungsklagen bereits im Vorfeld zu unterbinden. Österreich könnte hier mit gutem Beispiel vorangehen. Zwar bezahlt die Prozesskosten hierzulande derjenige, der das Gerichtsverfahren verliert, NGOs müssen aber oft viel Geld vorstrecken, was sie in den Ruin treiben kann. Helfen würde etwa ein Fonds, der Prozesskosten vorstreckt. Bei Streitigkeiten würde es dann nicht darum gehen, wer den längeren finanziellen Atem hat.

Flexible, digitale Gerichtsprozesse

Die Justiz ist Vorreiterin in Sachen Digitalisierung. Bereits seit 1990 können Anwälte ihre Schriftsätze elektronisch bei Gericht einbringen. Umso verwunderlicher ist es, dass digitale Zivilprozesse, wie sie in der Pandemie möglich waren, vorerst nicht ins Dauerrecht überführt werden sollen. Anwältinnen und Richter fürchten Probleme bei der Videoübertragung. Digitale Prozesse wären laut einem verworfenen Gesetzesentwurf aber ohnehin nur dann möglich gewesen, wenn die Verfahrensparteien zustimmen. Diese hätten daher selbst entscheiden können, ob sie das Risiko eingehen. Zivilprozesse sind ein kostenpflichtiges Service des Staates – und nicht ohne Konkurrenz: Unternehmen setzen vermehrt auf private Schiedsgerichte, die flexibel abgewickelt werden können. Der Staat sollte darauf reagieren.

Verwaltungsrecht

Rasche Bewilligung von Energieprojekten

Will Österreich seine Klimaziele erreichen, muss der Ausbau von Wasserkraft, Windrädern und Photovoltaikanlagen deutlich schneller werden. Die durchschnittlichen Verfahrenslängen liegen im Rahmen, der Bau großer Vorhaben zieht sich jedoch oft Jahre. Österreich arbeitet derzeit an einer Reform der Umweltverfahren. Klimaschutz soll künftig im "besonderen Interesse" des Staates stehen und bei Bewilligungen ein stärkeres Gewicht bekommen. Doch die Umsetzung des Vorhabens verzögert sich, weil sich die Regierung nicht einig wird. Dazu kommt, dass die Gesetze oft gar nicht der Grund für lange Verfahren sind. Das Problem ist vielmehr, dass Behörden und Sachverständige mit zu wenig Ressourcen ausgestattet sind. Mitunter dauert es Monate, bis Gutachten vorliegen.

Reform der Verwaltungsgerichte

Die grundlegende Reform der Verwaltungsgerichte ist seit 2014 wirksam. Österreich hat damals auf internationale Kritik reagiert und das System völlig neu organisiert. Bescheide von Behörden können seither von unabhängigen Gerichten überprüft werden. Österreich sollte sich allerdings nicht auf den Lorbeeren ausruhen, denn im Gegensatz zur Straf- und Ziviljustiz scheint die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach wie vor nicht völlig entpolitisiert zu sein. Die Nachbesetzung an der Spitze des Bundesverwaltungsgerichts war im türkis-grünen Sideletter vereinbart. Zudem wechseln immer wieder parteinahe Kabinettsmitarbeiter an Verwaltungsgerichte. Ändern könnte das etwa ein einheitliches Auswahlverfahren für Richter – so wie das auch in der Straf- und Ziviljustiz der Fall ist.

Rechtssicherheit bei Strafhöhen

Verwaltungsstrafen werden in Österreich nach dem sogenannten Kumulationsprinzip verhängt. Begeht eine Person mehrere Gesetzesverstöße gleichzeitig, werden die einzelnen Strafen zusammengerechnet. Anders ist das im Strafrecht: Dort bestimmen Richterinnen und Richter eine verhältnismäßige Gesamtstrafe. In der Praxis führt das Kumulationsprinzip mitunter zu ausufernden Strafhöhen, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg immer wieder aufhebt. Betroffenen ist deshalb oft nicht klar, wie die Strafen nun berechnet werden. Für Rechtsunterworfene sollte allerdings transparent sein, wie hoch Strafen ausfallen können. Das verwaltungsrechtliche Strafsystem könnte an jenes im Strafrecht angeglichen werden. Das würde zu mehr Rechtssicherheit führen. (Jakob Pflügl, 19.12.2022)