Foto: Matthew Ellery

Betrachtet man alte Fotos, fällt sein Blick auf: bohrend aus einer stoischen Mimik. Bei jedem Casting für den Massenmörder von nebenan wäre er eine Traumbesetzung gewesen. Mochte rund um ihn der Irrsinn explodieren, Mick Harvey behielt stets die Kontrolle und seine Coolness, den Rhythmus sowieso. Und der Irrsinn flog ihm nur so um die Ohren. Was sein Blick dabei aufnahm, machte Harvey über die Jahre zu einem verlässlichen Chronisten inmitten eines Soziotops, in dem Gedächtnislücken und das Frühstück aus der Spritze die Norm waren.

Das ist lange her. Mick Harvey ist heute 64 und so etwas wie ein Elder Statesman der australischen Musik, wenngleich ihm solche Zuschreibung an der Hose vorbeigehen dürften. Am Wochenende spielt er mit seiner aktuellen Duettpartnerin Amanda Acevedo zweimal in Österreich. Mit dabei ist der Australier J. P. Shilo, der mit der Berliner Band Sometimes With Others spielt. Am Samstag in Wien, kommenden Montag in Graz.

Entsetzlich bleiche Gestalten

Mick Harvey begann seine Karriere als Mastermind einer musikalischen Invasion. Diese beschränkte sich im Falle seiner ersten Band The Boys Next Door noch auf Australien, seine Heimat. Bei diesen Buben spie sein Schulfreund Nick Cave erste Texte ins Mikro. 1980 setzten diese für Australier entsetzlich bleichen Gestalten nach England über, nannten sich The Birthday Party und wurden zu einer epochemachenden Band, deren selbstzerstörerische Rücksichtslosigkeit in Musik mündete, die zur aufregendsten ihrer Zeit zählte.

Mute

Ihr Lebensstil forderte Opfer wie den Bassisten der Band, Tracy Pew, der 1986 mit 28 Jahren starb; andere wie Rowland S. Howard bezahlten die Rechnung für ihren Lebenswandel später. Und mittendrin war Harvey. Nicht immer nüchtern, aber nie von irgendetwas abhängig, hielt er die Fäden zusammen.

Im Kirchenchor

Nach dem Ende der Birthday Party avancierte er zum musikalischen Mastermind der Bad Seeds – und machte an der Seite von Nick Cave Weltkarriere, bis es dem Sohn eines Vikars mit Kirchenchorvergangenheit reichte. 2009 schmiss er den Krempel hin. Neben künstlerischen Differenzen war es vor allem das beständige Organisieren, das ihm zu viel war. "Ich bin nicht Musiker geworden, um als Bandmanager zu arbeiten", sagte er.

Fad wurde ihm deshalb nicht. Schon lange zählt er zur Band von PJ Harvey, ist ein gefragter Produzent und Netzwerker in der australischen Szene. Jeder kennt und schätzt ihn.

Mute

Für viele Nick-Cave-Fans ging mit Harveys Abgang bei den Bad Seeds eine Ära zu Ende, und es begann jene Phase, in der Cave im Schwitzkasten von Warren Ellis in Richtung Yoga-Mucke abdriftete. Suggestivfragen dazu wehrte Harvey schon vor Jahren nobel ab. Lieber sprach er über PJ Harvey oder seine Soloalben.

Noir-Balladen

Neun hat er bisher aufgenommen, sein Label Mute veröffentlichte die meisten davon gerade erstmals auf Vinyl, Anfang September erscheint ein neues. Es ist jenes, mit dem er zurzeit auf Club-Tour durch Europa ist. Das Werk heißt Phantasmagoria in Blue und ist eine Kollaboration mit der mexikanischen Sängerin Amanda Acevedo.

Es besteht aus einer Sammlung von Duetten wie zum Beispiel von Smokey And His Sister oder der deutschen Folksängerin Sibylle Baier aus den 1970ern. Acevedo und Harvey interpretieren diese Lieder als schattseitige Balladen – als Paar oder Kontrahenten, als gekränkte oder verlassene Lover. Glück ist so langweilig. Zumindest in der Kunst. (Karl Fluch, 4.5.2023)