Für den russischen Tag des Sieges am 9. Mai hätte sich Präsident Wladimir Putin vermutlich mehr gewünscht als eine abgeschlankte Parade. Die Einnahme der Ukraine war es jedenfalls nicht, auch aus dem seit Monaten umkämpften Bachmut in der Ostukraine kamen am Dienstag keinerlei Erfolgsmeldungen aus russischer Sicht.

Im Gegenteil, Jewgeni Prigoschin, Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, die in Bachmut kämpft, warf am Dienstag russischen Truppen in Bachmut vor, inmitten der heftigen Kämpfe aus ihren Stellungen geflohen zu sein.

Mit harschen Worten stellte Prigoschin zudem die Fähigkeit des russischen Staates infrage. "Warum ist der Staat nicht in der Lage, sein Land zu verteidigen?", fragte er in einem im Onlinedienst Telegram veröffentlichten Video, fügte hinzu, dass die Ukraine russische Grenzregionen "erfolgreich" angreife.

Heikler Wutausbruch

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet außerdem von einer weiteren Aufnahme Prigoschins, in der er von einem "glücklichen Großvater" sprach, der denke, dass mit dem Feldzug und ihm selbst alles in Ordnung sei. "Was wird das Land tun, unsere Kinder, Enkelkinder, die die Zukunft Russlands sind, und wie können wir diesen Krieg gewinnen, wenn sich zufällig herausstellt, und ich spekuliere hier nur, dass dieser Großvater ein Vollidiot ist?", wütete Prigoschin weiter.

Auf dem Schwarzenbergplatz organisierte der Wien-Ableger von Russians Against War eine Kundgebung, in der Kritik an Putins Angriffskrieg geäußert wurde.
DER STANDARD

Die Aussagen haben Spekulationen ausgelöst, wen er mit der Großvaterfigur gemeint haben könnte. Bisher hat Prigoschin jede persönliche Kritik an Präsident Wladimir Putin vermieden.

Prigoschin beklagt auch nach wie vor Munitionsmangel. "Der Tag des Sieges ist der Tag des Sieges unserer Großväter", sagt er in einem Video. "Wir haben diesen Sieg noch mit keinem Millimeter verdient."

Für 530 russische Soldaten, die in der Ukraine gekämpft hatten, war der Krieg am Dienstag zumindest für den Moment vorbei. Sie marschierten auf dem Roten Platz in Moskau, vorbei an Russlands Präsident Wladimir Putin, am 78. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Nazideutschland.

Keine neuen Argumente

Putins zehnminütige Rede war ohne neue Argumente. Der Kreml-Chef rechtfertigte die "Spezialoperation" in der Ukraine, nannte sie "Krieg". Russland sei angeblich das Opfer. "Heute befindet sich die Zivilisation erneut an einem entscheidenden Wendepunkt", sagte Putin vor Tausenden in Moskau. "Gegen unser Vaterland wurde ein echter Krieg entfesselt", fügte er hinzu. "Aber wir haben den internationalen Terrorismus zurückgeschlagen, wir werden die Einwohner des Donbass beschützen, und wir werden unsere Sicherheit gewährleisten." Die westliche Elite säe Hass und Russophobie, beklagte Putin. Die Menschen in der Ukraine seien zu "Geiseln eines Staatsstreichs" und der Ambitionen des Westens geworden.

Die Parade auf dem Roten Platz, für die Moskauer war es eher Alltag. Alle Geschäfte hatten offen, manche verfolgten den recht ausgedünnten Aufmarsch im Fernsehen. "Ich habe die Parade gesehen", begeistert sich die Rentnerin Natascha, "Putins Rede ist wie immer stark." Andere, vor allem die Jüngeren, hoffen vor allem darauf, dass der Krieg, oder die "Spezialoperation", wie es in Russland heißt, bald vorbei ist.

Wladimir Putin (mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu, links) rief auf dem Roten Platz vor tausenden Soldaten und Veteranen zur Geschlossenheit auf. Ein "echter Krieg" gegen Russland sei im Gange.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS

Auf der Ehrentribüne auf dem Roten Platz nahmen diesmal Staatschefs aus sogenannt "freundlichen" Ländern Platz: Gäste aus den Ex-Sowjetrepubliken Belarus, Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan, Kirgisistan, Usbekistan und Armenien. Präsentiert wurde Militärtechnik, Kampfpanzer allerdings fehlten mit Ausnahme des historischen T-34 aus dem Zweiten Weltkrieg. Offiziell gab es dazu keine Erklärung. Und auch nicht dafür, warum die traditionelle Flugshow abgesagt worden war, obwohl das Wetter keinen Anlass dafür bot. In den vergangenen Tagen war immer wieder spekuliert worden, ob die gesamte Parade aus Sicherheitsgründen dieses Jahr gecancelt wird. Vergangene Woche konnten nämlich zwei Drohnen bis zum Kreml-Gelände vordringen. Sie wurden von der russischen Luftabwehr in letzter Sekunde zum Absturz gebracht. Moskau warf Kiew daraufhin einen Anschlagsversuch auf Putin – der nicht vor Ort war – vor. Kiew sprach von einer russischen Inszenierung.

Explosionen in Kiew

Während in Moskau in der Nacht auf Dienstag wohl die letzten Vorkehrungen für die Militärparade getroffen wurden, wurden die Menschen in Kiew erneut von Sirenen und Explosionen aus dem Schlaf gerissen. Allein 15 russische Marschflugkörper wurden auf dem Weg oder über Kiew abgeschossen, es gab weder Tote noch Verletzte. Doch so wie in den Tagen zuvor hinterließen die Trümmer Schäden an Gebäuden und ziviler Infrastruktur.

Für viele kamen die Angriffe gerade am symbolträchtigen 9. Mai nicht unerwartet. Vor Jahren wurde dieser Tag auch in der Ukraine mit Paraden begangen. Nun hat Kiew aber den Entschluss gefasst, mit dieser Vergangenheit zu brechen. Der 9. Mai werde fortan auch in der Ukraine zum "Europatag", erklärte Präsident Selenskyj. Wichtige Unterstützung dafür kam am Dienstag in der Gestalt von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Kiew (siehe unten).

Keine Ankündigungen

In Moskau konnte Putin in seiner Rede aber nicht nur keine russischen Militärerfolge verkünden, er machte auch keinerlei neuen Ankündigungen zu den Zielen der "Spezialoperation" in der Ukraine.

Wie es der Kreml-kritische Politologe Abbas Galljamow am Dienstag ausdrückte: "Worte sind aus Sicht von Putins Anhängern natürlich gut und richtig, aber jetzt ist die Zeit der Taten, nicht der Worte. Nun, da nichts angekündigt wurde, ist eine Enttäuschung vorprogrammiert." (Jo Angerer, Manuela Honsig-Erlenburg, Daniela Prugger aus Kiew, 10.5.2023)