Selbstbefriedigung, Masturbation
Selbstbefriedigung macht nicht nur Spaß. Es ist auch die perfekte Übungsplattform, um Lust und Orgasmus insgesamt zu intensivieren.
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Man solle mehr über Masturbation sprechen. Und zwar als Teil der sexuellen Aufklärung an Schulen. Das regte die US-amerikanische Ärztin Joycelin Elders als Surgeon General – eine Position im U.S. Public Health Service, die gegenüber der Regierung zu Angelegenheiten des öffentlichen Gesundheitswesens Stellung nimmt – im Jahr 1994 an. Der damalige Präsident Bill Clinton soll sie aus diesem Grund entlassen haben. Seither ist der Monat Mai der Masturbation gewidmet. Und am 28. Mai wird der internationale Tag der Masturbation begangen. So will es zumindest die Erzählung.

Egal ob Urban Legend oder Wahrheit, seit 1995 besteht diese Tradition. Und das ist gut so, denn rund um Selbstbefriedigung gibt es immer noch viel zu viele Tabus – auch wenn das in unserer aufgeklärten Welt fast nicht vorstellbar scheint. Immer mehr Menschen wollen sich mit diesen Tabus aber nicht mehr abfinden, sie wollen ihr eigenes Lustempfinden erkunden und damit einen besseren Zugang zu sich selbst und zueinander als Paar finden. Manche von ihnen kommen dann zu Monika Seidel in die Praxis. Sie ist klinische Sexologin und Expertin für Sexological Bodywork in Wien. Im Interview erzählt sie, was guten Sex ausmacht, welchen Beitrag Masturbation da leisten kann und mit welchen Techniken man sich besser spüren lernt.

STANDARD: Wir haben alle gewisse Vorstellungen im Kopf, wie Sex sein soll. Die variieren in Details, aber am Ende steht fast immer eine sensationelle Entladung der Lust, die einen völlig befriedigt zurücklässt. Fühlt sich so guter Sex an?

Seidel: Für viele sicher. Aber es ist ein sehr schmales Erleben für etwas, das unendlich viele Varianten und Nuancen hat. Ich denke, guter Sex und Erfüllung sind dann gegeben, wenn man sich fallen lassen kann, wenn man Genuss und Erregung dabei empfindet und diese bis zum Orgasmus steigern kann. Das läuft aber nicht nach einem bestimmten Schema ab und sieht auch nicht bei jeder Person gleich aus. Es kann auch von Tag zu Tag variieren. Und man muss auch nicht zwingend einen Höhepunkt haben. Sex kann auch ohne Orgasmus sehr genussvoll und befriedigend sein. Aber nicht wenige Menschen haben das Gefühl, sie können ihre Lust und Erregung nicht wirklich halten, sie können sich nicht fallen lassen.

STANDARD: Inwiefern tragen dazu die Darstellungen von sexuellen Handlungen in Filmen, Serien oder auch Pornos bei? Die Vorstellungen, die da kreiert werden, wie Sex zu sein hat, und die Realität klaffen ja oft sehr auseinander ...

Seidel: In Filmen wird Sex in den allermeisten Fällen als reine Penetration mit unglaublichen Höhepunkten dargestellt. Dadurch entsteht natürlich ein Leistungsdruck, etwa wenn männliche Poronodarsteller ewig penetrieren können. Aber auch bei Frauen erzeugen diese Vorstellungen Stress. Wenn man sich an den gängigen Bildern orientiert, wie Lust und Leidenschaft auszusehen haben, kann das Gefühl entstehen, alle anderen können den Sex viel mehr genießen als man selbst. Das gilt auch für den Orgasmus. Uns werden sehr eindimensionale Darstellungen präsentiert, auf welche Art man ihn erreicht oder wie intensiv er sich anfühlen muss. Das kann man aber nicht verallgemeinern. Die Realität ist ganz anders als die Darstellung auf dem Screen. Und  für jeden Mann, jede Frau ist das individuell.

STANDARD: Kann man überhaupt sagen, wie sich ein Orgasmus anfühlt?

Seidel: Ja und nein. Ich habe ein Buch, in dem gibt es eine Seite mit drei Spalten, in denen all die Arten von Orgasmen aufgelistet sind, die eine Frau haben kann. Das können kleine Wellen sein, die durch den Körper laufen, es kann zu intensiven Kontraktionen kommen, es kann beim Solosex ganz anders sein als bei der Penetration. Es kann sich völlig unterschiedlich anfühlen, wenn man klitoral stimuliert oder am G-Punkt innerhalb der Vagina, da gibt es eine unendliche Vielfalt. Und manchmal nimmt frau auch die kleinen Höhepunkte, also zum Beispiel solche Wellen, gar nicht so richtig war, weil sie nach dem ganz Großen strebt oder eine ganz konkrete Vorstellung von ihrem Orgasmus hat. Man vergisst aber dabei, dass sich das Empfinden und die Lust oft erst entwickeln müssen.

Männer tun sich im Normalfall viel leichter, ihren Orgasmus zu erkennen. Natürlich gibt es manche, die nicht ejakulieren beziehungsweise die Ejakulation unterdrücken können. Aber bei wahrscheinlich 99 Prozent sind Ejakulation und Orgasmus gekoppelt.

STANDARD: Wie schafft man es, diesen tollen Orgasmus zu bekommen?

Seidel: Durch Übung. Dabei lernt man, diese kleinen Empfindungen wahrzunehmen, die sich dann in der Folge kumulieren können. Viele denken, das Spüren ist von Beginn an intensiv da. Aber man muss ja erst einmal Kontakt aufnehmen zu sich selbst. Buben tun sich da leichter, sie stehen von Anfang an in Kontakt mit dem Penis. Das weibliche Lustorgan ist aber, abgesehen von der Vulva, nach innen gerichtet. Deshalb kommt es erst durch bewusstes Hinspüren, durch Probieren und Stimulieren zu den neuronalen Verschaltungen im Gehirn, durch die man die Lust besser wahrnehmen kann. Und insofern ist die Neugier auf den eigenen Körper und das Ausprobieren unendlich wichtig.

Man lernt dabei, die Empfindung, die da ist, zu kanalisieren und in Lust und Erregung umzuwandeln, bis zur Entladung. Und man muss auch entdecken, wo und wie man überhaupt Lust empfindet. Das ist ja nicht bei allen gleich. Der G-Punkt zum Beispiel ist nicht von Haus aus eine erogene Zone. Erst wenn man ihn richtig stimuliert, kann das wirklich lustvoll werden. Beim Üben kann man auch neue Areale für die Stimulation entdecken. Und genau das macht dann womöglich den kleinen, aber feinen Unterschied. Dafür braucht es Zeit und Offenheit, die Neugier und Bereitschaft, verschiedene Dinge auszuprobieren. Der erste Impuls ist ja oft, nein, das gibt mir nichts. Aber wenn man dann das Gleiche noch einmal probiert, und vielleicht ein drittes Mal, lernt das Gehirn, diese neue Empfindung einzuordnen und richtig zu verwerten.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Masturbation dabei?

Seidel: Sie ist ein wunderbares Mittel, um den eigenen Körper kennenzulernen. Wo berühre ich mich gerne, wie viel Druck brauche ich, soll es langsam oder eher schnell sein? Zu lernen, was einem guttut, ist ja auch für die Kommunikation wichtig. Man kann dann dem Partner sagen oder zeigen, wie man stimuliert werden will. Und man lernt dabei auch, wie man diese wohligen und guten Gefühle steigern kann, wie man die eigene Erregungskurve gestalten muss, damit man zum Höhepunkt kommt. Braucht man Muskelanspannung oder eher einen entspannten Tonus? Wie kann man die Atmung unterstützend einsetzen? Wie können Stimulationsmuster aussehen? Diese Wahrnehmung läuft ja ganz unbewusst ab. Aber wenn man sich damit auseinandersetzt und es erforscht, kann man das für sich nutzen.

STANDARD: Guter Sex trägt auch zur Gesundheit bei, hört man oft. Wie sehen Sie das?

Seidel: Das stimmt definitiv. Ich sehe dabei zwei Aspekte. Masturbation beziehungsweise sexuelle Erfüllung ist prinzipiell eine sehr gute Methode zum Stressabbau. Da werden Dopamin, Oxytocin, Serotonin und Endorphine ausgeschüttet, die entspannen, Kopfschmerzen oder Regelschmerzen weniger spürbar machen und Glücksgefühle auslösen. Man ist mit sich selbst und dem eigenen Körper besser verbunden. Und dann gibt es den sozialen Aspekt. Den erkenne ich am besten an den Berichten von Menschen in meiner Praxis, die Probleme haben, ihre Lust zu spüren. Viele ziehen sich dann in der Beziehung zurück, scheuen Intimität und oft auch das Kuscheln, damit erst gar keine Nähe entsteht, die dann womöglich zu Sex führen könnte. Bei Menschen, die sich nicht so gut fallen lassen können und die keinen Partner haben, entsteht oft auch eine Angst, nie wieder einen Partner zu finden.

STANDARD: Und trotzdem fasziniert alles rund um Sex immer wieder. Warum?

Seidel: Weil es immer noch ein Tabuthema ist, vor allem in der Kommunikation. Viele Menschen lesen alles, was ihnen dazu unterkommt, das beste Beispiel dafür ist der Erfolg von "Fifty Shades of Grey". Aber sie sprechen nicht oder nur wenig darüber. Vor allem die Selbstbefriedigung ist ein Tabuthema. Viele sagen in der Beziehung nicht, dass sie masturbieren, das ist etwas Geheimes, Verbotenes. Und alles, wo ein Verbot drinsteckt, hat einen besonderen Reiz.

STANDARD: Im Sinne einer freudvollen und entdeckerischen Selbstbefriedigung, was sind Ihre besten Tipps? Für Männer und für Frauen?

Seidel: Das Wichtigste ist, dass man sich wirklich Zeit nimmt, zumindest ab und zu. Dann kann man nämlich variieren, neue Berührungen ausprobieren oder auch ein neues Spielzeug einbauen. Dadurch entstehen neue Reize, man kommt mehr ins Spüren. Viele von uns haben ja ein bestimmtes Muster, von dem man weiß, dass es zum Höhepunkt führt. Ein Mann schaut zum Beispiel einen Porno und befriedigt sich dabei. Dadurch ist er aber sehr im Außen. Es ist prinzipiell auch nichts gegen Pornos einzuwenden. Aber zwischendurch ist es gut, auf die eigene Berührung zu fokussieren, bewusst in die Wahrnehmung zu gehen, aktiv zu spüren, neue Möglichkeiten auszuprobieren und zu schauen, was das mit einem macht.

Das gilt auch für Frauen, zum Beispiel wenn man ein neues Spielzeug ausprobiert. Man nimmt sich Zeit, um ganz bewusst den Empfindungen nachzuspüren. Oder man berührt sich mit den Fingern innen in der Vagina und fühlt, was dabei passiert. Dazu gehört auch, ergebnisoffen zu experimentieren, nicht auf schnelle Befriedigung zu setzen. Das heißt, wahrnehmen, was ist, ohne zu bewerten, einfach im Moment sein. Dann kann man etwa die Atmung beobachten. Ist die eher flach und angespannt? Oder tief und gleichmäßig? Was passiert, wenn ich sie verändere, in den Bauch runteratme? Auch die Körperspannung ist ein Thema. Manche haben gelernt, vom Kopf bis zu den Zehen anzuspannen, weil sie so schnell zum Orgasmus kommen. Da nimmt man sich aber sehr viel vom Genuss und vom Spüren. Man könnte ausprobieren, was passiert, wenn man bewusst entspannt, vielleicht das Becken dazu bewegt. Experimentiert man mit der Körperspannung, wird der Orgasmus allein schon durch die bessere Durchblutung intensiver.

Ein weiterer Ansatz ist, größere Bereiche einzubeziehen, den Oberkörper oder die Schenkel mehr zu berühren. Dadurch verteilt man die Empfindungen weiter im Körper, entdeckt womöglich neue erogene Zonen und kann auch so einen intensiveren Höhepunkt bewirken.

STANDARD: Gibt es denn bestimmte Techniken, die jeder und jede anwenden kann?

Seidel: Ein allgemeingültiges Rezept gibt es nicht, die optimale Technik ist individuell verschieden. Aber man kann mit unterschiedlichen Berührungen angelernte Muster erweitern und sensibler werden. Durch dieses Experimentieren bilden sich neue neuronale Verschaltungen, sogar neue erogene Zonen können entstehen oder intensiver wahrgenommen werden. Und vor allem Frauen empfehle ich, dass sie sich Zeit geben. Viele sind ungeduldig und geben rasch auf, weil sie nicht gleich etwas spüren. Sie haben dann das Gefühl, das wird ohnehin nichts. Da sollte man sich einen Wecker stellen, auf 20 oder 30 Minuten. Diese Zeit beschäftigt man sich dann ergebnisoffen mit sich selbst. Bei den allermeisten tut sich nach einer Weile etwas, es kommt womöglich ein Schub in Richtung Höhepunkt.

Eine spannende Technik ist auch, über mehrere Minuten immer dieselbe Berührung zu machen, wie eine Meditation. Man nimmt zum Beispiel die Klitoris zwischen die Finger und macht kreisrunde Bewegungen. Dabei kann man langsamer werden oder auch schneller, leichter drücken oder fester. Wichtig ist, dass man bei der bewussten Wahrnehmung bleibt und dadurch ins Spüren kommt. Beim Sex ist ja ein großes Problem, dass der Kopf oft dazwischenfunkt und man auf einmal an die schmutzige Wäsche oder Ähnliches denkt. Das gilt natürlich auch für Männer. Aber wenn man da dranbleibt, wird sich etwas verändern. Man muss nur die Geduld haben, das zu erwarten. (Pia Kruckenhauser, 28.5.2023)