Das Auto holpert über die steinige Piste. "Achtung, jetzt wird es ungemütlich", sagt Tassos P. Der Boden ist an vielen Stellen aufgebrochen, daneben schaufeln Bagger Schutt zu gewaltigen Hügeln auf. Vor einer tiefen Schneise hält Tassos den Wagen an. "Hier wird bald der Trachones-Bach verlaufen, inmitten eines grünen Erholungsgebietes", sagt er. Ringsherum werden Bäume und Blumen wachsen, siebenstöckige Wohntürme in die Höhe ragen und Sportplätze und Restaurants stehen. "Wir bauen eine von Grund auf neue Stadt. Es wird eine Stadt in der Stadt."

"Ellinikon" heißt das Projekt, das derzeit entlang der Küste im Süden Athens entsteht. Es soll das größte Stadterneuerungsprojekt Europas sein, verkünden die Entwickler, sowie "das neue Gesicht Griechenlands im Ausland", wie es aus der griechischen Regierung heißt. Im eigenen Land zweifeln einige Expertinnen und Experten und Bewohnerinnen und Bewohner jedoch daran, ob und wie ein solches Megaprojekt umsetzbar ist – und wer am Ende davon profitiert. Lässt sich eine ganze Stadt einfach so neu erschaffen?

Stadt der Superlative

Für die Beschreibung des Projekts mangelt es den Entwicklern nicht an Superlativen: Mit rund sechs Millionen Quadratmetern Fläche soll Ellinikon bald zum größten Küstenpark Europas werden, mit einer Grünfläche, die sowohl den Hyde Park in London als auch den Central Park in New York City übertrifft.

Vogelperspektive auf den neuen Stadtteil Ellinikon an der Küste von Athen
An der Küste Athens entsteht derzeit das Projekt "Ellinikon". Es soll eine Stadt in der Stadt werden und laut den Entwicklern das größte Stadterneuerungsprojekt in Europa sein. Doch Expertinnen und Bewohner stehen dem Megaprojekt skeptisch gegenüber.
Lamda Development

Mit einem 200 Meter hohen Wolkenkratzer soll das Gebiet bald das höchste Gebäude Griechenlands beheimaten, zudem 10.000 neue Wohnungen, das größte Einzelhandelsviertel Europas, einen riesigen Yachthafen, Schulen, Krankenhäuser, Büros, Hotels, Museen, 50 Kilometer Rad- und Spazierwege sowie einen eineinhalb Kilometer langen Strand. Das alles soll "nachhaltig", "smart" und möglichst "energieautark" betrieben und auch gebaut werden, versprechen die Entwickler.

"Ellinikon wird alles haben, was eine Stadt auch hat", sagt Katerina K. Sie steht in einer großen Halle, deren Inneres aussieht wie aus einem futuristischen Designerkatalog: Weiße Säulen schlingen sich zu zylinderförmigen Ausstellungsräumen, künstliche Wiesen und Bäume säumen den Weg, von der Decke läuft das Wasser in einen kleinen See zusammen, Projektoren beleuchten die Wände mit Animationen von glänzenden Wolkenkratzern und Einkaufsvierteln.

Ein Blick in die künftige Stadt

"Experience Center" heißt die Anlage, die den Athenern und internationalen Besuchern schon jetzt einen ersten Einblick in das Projekt bieten soll – vor allem auch jenen, die bisher noch skeptisch gegenüber den Plänen sind. Wer will, kann dort auf einem Fahrrad eine virtuelle Tour durch die künftige Stadt machen oder sich ein lebensechtes Modell einer der teureren Stadtwohnungen ansehen, in dem sich Licht, Kühlschrank und andere Geräte per Display oder App steuern lassen. Zudem können Besucher eine virtuelle Bootstour machen, bei der sie das Boot vorbei am zukünftigen Sandstrand und am Hafen steuern.

In einem dunklen Ausstellungsraum nebenan wiederum hören Besucher, wie Insekten bei Nacht durch den Park schwirren. Auch ein mehrere Meter großes Modell der Stadt haben die Entwickler im Inneren der Anlage aufgestellt. In sattem Grün leuchten die Bäume und Wiesen im Zentrum des Modells, weiße Wohnhäuser und Wolkenkratzer schmiegen sich an den Park, dazwischen verlaufen blau leuchtende Rad- und Fußgängerwege, die mit Bänken und Brücken geschmückt sind. "Hier werden die Wohnungen sein, direkt am Strand, daneben der Hafen mit dem Einkaufsviertel und den Fünf-Sterne-Hotels, dazwischen der 200 Meter hohe Riviera Tower", erklärt Katerina.

Modell der Stadt Ellinikon
Das Modell der Stadt Ellinikon soll Besucherinnen und Besuchern im "Experience Center" zeigen, wie die Stadt aufgebaut sein wird.
Lamda Development

Reiche Geldgeber

Katerina K. und Tassos P. sind Mitarbeiter von Lamda Development, der griechischen Immobilienentwicklungsgesellschaft, die hinter dem Projekt steht. Lamda Development betreibt große Einkaufszentren bei Athen und Thessaloniki. Die Mehrheit am Unternehmen hält die Reeder- und Bankiersfamilie Latsis, die während der Finanzkrise vom Euro-Rettungsschirm für das griechische Bankensystem profitiert hat und heute mit einem Vermögen von rund 2,7 Milliarden Euro zu den reichsten Griechen zählt.

Rund zehn Milliarden Euro investiert Lamda Development nun in die neue Küstenstadt. Allein für die auf 99 Jahre befristete Pacht des Geländes bezahlte das Unternehmen mehr als 900 Millionen Euro.

Es ist ein Gelände mit einer langen Geschichte: Von 1938 bis 2001 befand sich hier der internationale Flughafen der griechischen Hauptstadt, bis dieser vom neuen Flughafen Athen-Eleftherios Venizelos abgelöst wurde. Für die Olympischen Sommerspiele 2004 ließ die griechische Regierung einige Stadien auf dem Gelände errichten, 2016 dann Flüchtlinge in Quartieren unterbringen. Seither lag das riesige Grundstück weitgehend brach. Um die Staatsfinanzen nach der schweren Wirtschaftskrise aufzubessern, wurde das Areal schließlich privatisiert und ging für dessen Neuentwicklung nach einer Ausschreibung an Lamda Development.

Kräne auf einer Baustelle im zukünftigen Stadtteil Ellinikon
Der zukünftige Stadtteil Ellinikon ist noch eine Baustelle.
Lamda Development

"Klein-Dubai"

Wer heute mit dem Auto über das Gelände fährt, kann dessen frühere Glanzzeit nur schwer erahnen. Die großen Hockey- und Baseball-Stadien sind abgebröckelt und eingefallen, die ehemaligen Hangars und Terminals leergeräumt und totenstill, der Asphalt der Start- und Landebahn aufgebrochen und von Wiesen überwachsen. Drei alte Olympic-Air-Flugzeuge stehen wie verlorene Kolosse auf dem Flugplatz – sie können nicht mehr fliegen und sind für den Abtransport zu schwer. Neben der Straße zeigt ein verbogenes Schild den Weg zum Terminal, davor ragt ein rostiges Auto aus der Erde hervor.

Trotz des Verfalls verspricht die Lage des Gebiets einiges: Das Athener Stadtzentrum mit der berühmten Akropolis ist nur rund 20 Minuten mit der U-Bahn oder rund 30 Minuten mit dem Auto entfernt, zudem erstreckt sich entlang der Küste südlich von Ellinikon die "Athener Riviera" mit Hotels, gehobenen Wohnvierteln und beliebten Aufenthaltsorten von Prominenten und Geschäftsleuten.

Hört man sich in der Athener Bevölkerung um, glaubt dort kaum jemand, dass nun gerade in Ellinikon leistbarer Wohnraum entsteht. "Klein-Dubai" nennen einige Athenerinnen und Athener stattdessen das Projekt in sozialen Medien. Beitragen dürften zu diesem Eindruck wohl vor allem der Yachthafen, die Luxuswolkenkratzer, die Nobelflaniermeile sowie die beiden Fünf-Sterne-Hotels, die bis 2036 dort errichtet werden sollen.

Rendering eines Wolkenkratzers an der Küste in Athen.
Auch Wolkenkratzer und Fünf-Sterne Hotels sind in der Privatstadt geplant
Lamda Development

Ellinikon wird eine Stadt für alle sein, betont Katerina K.: für Athener, Geschäftsleute und Touristen. Die Wohnungspreise werden nicht "realitätsfern" sein und in etwa den Preisen von benachbarten Vierteln entsprechen. Der Park und der Strand werden öffentlich zugänglich sein und damit auch der Athener Bevölkerung als Rückzugsort vor der drückenden Sommerhitze dienen, sagt sie.

Projekt "höchst riskant"

Eine Vergrünungs- und Erneuerungskur hat Athen laut Expertinnen und Experten bitter nötig. Im internationalen Vergleich belegt Athen bei Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit von 183 Städten nur den 121. Platz, wie der aktuelle "Cities in Motion Index" der IESE Business School in München zeigt.

Athen ist eine der am dichtesten bebauten Städte Europas, hat verhältnismäßig wenig Grünflächen und die europaweit höchste Rate an Autobesitzern, heißt es in der "Urban Age Task Force"-Studie der LSE London. Die hohe Betondichte hat ihren Preis: Bis 2050 könnten Hitzewellen und Dürren in Athen so sehr zunehmen wie in kaum einer anderen europäischen Stadt, zeigt eine Studie der Universität Newcastle von 2018.

Sind neue Quartiere wie Ellinikon die Antwort auf diese Herausforderungen? "An den Problemen einer dichtbebauten und zubetonierten Stadt ändert Ellinikon wenig", sagt Loukas Triantis, Stadtforscher an der Aristoteles-Universität Thessaloniki und Co-Autor der "Urban Age Task Force"-Studie. Stattdessen müssten viele kleinere Parks und Grünflächen im Stadtzentrum geschaffen werden. Die Grünfläche, wie sie in Ellinikon geplant ist, sei außerdem kein Wald, sondern eher ein Themenpark, der mit Restaurants, Sportanlagen und anderen Gebäuden bepflastert werde.

Rendering eines Ausblicks von einer der Terassen auf das Meer.
Kritiker bezeichnen Ellinokon als "Klein-Dubai"
Lamda Development

Riskante Wette

Schon allein an der Umsetzbarkeit des Projekts hat Triantis seine Zweifel. "In Griechenland hat es ein so großes Bauprojekt noch nie gegeben", sagt er. Für die Genehmigung und Vorbereitung des Projekts habe die Regierung unzählige Baugesetze und Richtlinien anpassen müssen.

Die Konstruktionsphase sei mit 25 Jahren zudem sehr lang und aufgrund des vorgefertigten Plans wenig flexibel, auf Veränderungen wie eine Wirtschaftskrise oder den Klimawandel zu reagieren. Gerade an der Küste, die vom steigenden Meeresspiegel und von Erosionen besonders betroffen ist, sollen die großen Wohntürme und Einkaufsviertel der neuen Stadt gebaut werden. "Das ist höchst riskant", sagt Triantis.

Problematisch sei auch, die Planung und Umsetzung einer Stadt nur in private Hände zu legen, gibt Triantis zu bedenken. Denn das werfe einige Fragen auf: Wie sehr wird der Park öffentlich zugänglich sein? Wie sehr wird er kommerzialisiert? Wird er videoüberwacht werden? Wer kümmert sich um Müll oder Verbrechensbekämpfung in einer solchen Privatstadt? Im schlimmsten Fall entstehe eine Gated Community, so die Befürchtung des Experten. Die Athener seien bisher nie gefragt worden, welche Art von Stadt Ellinikon eines Tages sein soll.

Man führe in regelmäßigen Abständen Umfragen durch, die eine überwiegend positive Rückmeldung für Ellinikon zeigen, sagt Katerina K. Eine aktive Teilhabe der Bevölkerung am Projekt gibt es jedoch nicht.

Viele Herausforderungen

Für die Entwickler stellen sich aktuell noch andere Herausforderungen, die sich aus der Geschichte des Areals ergeben. Ein antikes Steinmonument musste für die Bauarbeiten bereits versetzt werden, unter der Erde könnten sich noch weitere archäologische Schätze verbergen. Auch die Trainingsunterkünfte einiger griechischer Athleten mussten bereits umgesiedelt werden. Das alte Terminal steht unter Denkmalschutz und muss in die neue Stadt integriert werden. Was mit den drei alten Flugzeugen passieren soll, die immer noch vor dem Hangar stehen, ist völlig unklar.

Das Alte soll in Ellinikon ein neues Leben bekommen, verspricht Lamda Development: Materialien aus dem Flughafen verwerte man so gut wie möglich wieder, was auch den ökologischen Fußabdruck verringere, das alte Terminal und das antike Monument könnten in Zukunft Teil eines "Kulturwegs" werden.

Noch steht von den meisten geplanten Gebäuden aber nicht einmal das Fundament. Lediglich ein Teil des Parks ist bereits für die Öffentlichkeit zugänglich. Einige Eltern spazieren dort an diesem Vormittag mit ihren Kindern. Um sie herum rollen die Bagger, Kräne setzen die ersten Teile für den Riviera-Tower zusammen. Von bis zu 200 Meter Höhe werden dessen Bewohner eines Tages durch die Glasfront ihrer Penthäuser auf das Meer, den Park und die Familien schauen, die wie kleine Punkte unten spazieren. Oder sie sitzen schon wieder im Flieger zu einem ihrer anderen Wohnorte. "Viele reichere Menschen aus Asien und Saudi-Arabien investieren in Immobilien in Athen", sagt Triantis. "Es ist durchaus möglich, dass die Wohnungen in Ellinikon eines Tages leerstehen." (Jakob Pallinger, 16.7.2023)