Ein Wirtschaftswachstum von 6,3 Prozent klingt eigentlich gut, vor allem in Anbetracht der aktuellen Weltwirtschaftslage. Genau diese 6,3 Prozent hat das chinesische Statistikamt NBS am Montag für das zweite Quartal bekanntgegeben. Sieht man sich die Situation etwas genauer an, wird schnell klar, warum in China dennoch kein Grund zur Freude besteht. Die Wirtschaft wächst langsamer als erwartet, und die vergleichsweise hohe Zahl resultiert lediglich aus der niedrigen Ausgangslage im Vorjahreszeitraum. Zur Erinnerung: China fuhr sehr lange eine strikte Zero-Covid-Politik. Vor einem Jahr befanden sich die Finanzmetropole Schanghai und weite Teile des Landes noch in einem strengen Lockdown. 

Schwache Exporte, kriselnder Immobilienmarkt, Rekordjugendarbeitslosigkeit – China kämpft mit einer Reihe an Problemen. Verglichen mit dem ersten Quartal 2023 ist das Bruttoinlandsprodukt von April bis Juni nur um 0,8 Prozent gestiegen. Damit wurde einerseits das Ergebnis des ersten Vierteljahres von 2,2 Prozent klar verfehlt, andererseits blieb man sogar hinter den Prognosen der meisten Ökonomen zurück.

Die Erholung der chinesischen Wirtschaft von der Corona-Krise hat im zweiten Quartal angesichts zahlreicher Probleme erheblich an Schwung verloren.
Die Erholung der chinesischen Wirtschaft von der Corona-Krise hat im zweiten Quartal angesichts zahlreicher Probleme erheblich an Schwung verloren.
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Keine Inflation, Angst vor Deflation

Während die westlichen Länder gegen eine hartnäckig hohe Inflation kämpfen, wächst in China sogar die Sorge angesichts einer potenziellen Deflation. Die Erzeugerpreise fielen nun schon zum neunten Mal in Folge, im Juli sogar so stark wie zuletzt im Dezember 2015. Die Inflation liegt bei null Prozent. Eine angenehme Situation für Konsumentinnen und Konsumenten, denn das Geld behält seinen Wert. Allerdings bremsen die sinkenden Preise zuerst Produktion und Nachfrage, danach Löhne und Investitionen. Es droht die berühmte Abwärtsspirale: Warum heute ein Produkt kaufen, wenn es morgen günstiger ist. 

Nachdem das Land im Dezember seine strengen Corona-Beschränkungen aufgehoben hatte, startete die chinesische Wirtschaft zunächst optimistisch in das neue Jahr. Von dieser Zuversicht ist nicht mehr allzu viel übrig. Um die drohende Deflation aufzuhalten, muss die Regierung in Peking die Nachfrage ankurbeln. Kein einfaches Projekt, denn in der Bevölkerung macht sich allmählich Pessimismus breit, und nach der schwierigen Corona-Zeit sind auch die Ersparnisse vieler Familien aufgebraucht. Was die Hoffnung schwinden lässt, dass Haushalte ihre Ersparnisse nach dem Ende der Restriktionen ausgeben.

"Jahr zum Vergessen"

Viele Experten spekulieren darauf, dass Regierung und Zentralbank versuchen werden, der Konjunktur mit neuen Hilfen auf die Sprünge zu helfen. "Wir erwarten in den kommenden Monaten eine Lockerung der Geldpolitik und gezielte fiskalische Unterstützung für Schlüsselbranchen, darunter Immobilien und Baugewerbe", heißt es bei Goldman Sachs. "Aber diese zusätzliche Unterstützung wird kein Allheilmittel sein. 2023 sieht für China zunehmend wie ein Jahr zum Vergessen aus." Auch die Ökonomin Carol Kong von der Commonwealth Bank of Australia prognostiziert China einen maximal stockenden Aufschwung: "Die Daten signalisieren, dass Chinas Nach-Corona-Boom eindeutig vorbei ist."

Weniger Exporte und Jugendarbeitslosigkeit

Die exportgetriebene Volkswirtschaft leidet vor allem unter der schwachen globalen Nachfrage, einem kriselnden Immobilienmarkt, der ein Viertel der Wirtschaft ausmacht, sowie dem anhaltend niedrigen Binnenkonsum. Bereits vergangene Woche wurde bekannt, dass Chinas Exporte im Juni um mehr als zwölf Prozent zurückgegangen waren. 

Der Exportweltmeister leidet unter der schwächelnden Nachfrage im Ausland.
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Ein eher neues Problem für die Volksrepublik ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit, DER STANDARD hat berichtet. Mehr als 20 Prozent der Chinesinnen und Chinesen zwischen 16 und 24 Jahren sind arbeitslos. Rekordwert. Diese Situation dürfte ebenfalls mit den langen und zahlreichen Lockdowns zusammenhängen. Viele Studenten zogen es in den vergangenen Jahren vor, ihr Studium zu verlängern, anstatt sich um Jobs zu bewerben. Zudem steht Millionen Schul- und Uni-Absolventen nur noch ein begrenztes Angebot an Jobs zur Verfügung.

Schwer zu erreichendes Ziel

Fünf Prozent lautete das von der Staatsführung im Frühjahr ausgegebene Wachstumsziel für das Reich der Mitte. Zahlreiche Analysten bezweifeln inzwischen, ob das noch möglich ist. Vergangenes Jahr war die Wirtschaft des Landes vor allem wegen der rigiden Corona-Regeln nur um drei Prozent gewachsen statt der angepeilten 5,5 Prozent. Das war nach 2020 der schwächste Wert seit der Reform- und Öffnungspolitik Ende der 1970er-Jahre. (Andreas Danzer, 17.7.2023)