Dominik Straub aus Rom

Man kann nicht behaupten, dass Italiens Regierung unter Giorgia Meloni ihre Entscheidung zum neuen "decreto flussi", das die jährlichen Quoten für die legale Einwanderung festlegt, an die große Glocke gehängt habe. Ein dürres Communiqué aus dem Palazzo Chigi, dem Regierungssitz in Rom, musste genügen. Der Inhalt der verschämten Mitteilung war aber durchaus bemerkenswert: Die Regierung Meloni, die rechteste in Italien seit dem faschistischen Diktator Benito Mussolini, will in den kommenden drei Jahren eine halbe Million Einwanderer ins Land holen – so viele wie noch keine andere vor ihr.

Giorgia Meloni am Rednerpult
Italiens rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Realpolitik-Modus: Ihr Land braucht legale Zuwanderung.
REUTERS/KACPER PEMPEL

Dabei waren die Migranten und Ausländer – neben den "Eliten" und den "Euro-Bürokraten" – das wohl wichtigste Feindbild sowohl der postfaschistischen Fratelli d'Italia von Meloni als auch von ihrem Regierungspartner, der rechtsnationalen Lega von Matteo Salvini, gewesen. Meloni hatte im Wahlkampf sogar eine militärische Seeblockade gegen die Flüchtlingsboote in Aussicht gestellt; und ihr Schwager, Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, hatte noch vor kurzem erklärt, dass es nicht angehen könne, dass offene Arbeitsstellen in Italien mit ausländischen Arbeitskräften besetzt würden. Das käme einer "ethnischen Ersetzung", einem "Austausch" gleich. Vielmehr habe es sich die Regierung zum Ziel gesetzt, die Italienerinnen und Italiener dazu zu animieren, wieder mehr "bambini" (Kinder) in die Welt zu setzen.

Inzwischen sind Meloni, ihr Schwager, Salvini und auch der Rest des Kabinetts in der Realität angekommen. Es würde eben mindestens 20 Jahre dauern, bis die – bisher eher zaghaften – Maßnahmen zur Familienförderung Früchte zeigen und den Arbeitsmarkt entlasten könnten. Die Betriebe brauchen die Arbeitskräfte aber jetzt – und zwar gleich. 833.000 – dies ist die Zahl der Gesuche für neue Ausländerquoten, die beim Ministerium für "Unternehmen und Made in Italy" eingegangen sind. Ein weiterer Punkt: Ob die offenen Stellen durch inländische statt durch ausländische Arbeitskräfte besetzt werden können, ist nicht nur eine Frage der Zahl der theoretisch vorhandenen Arbeitswilligen, sondern auch der Löhne. Und die sind in Italien in vielen Branchen derart niedrig, dass nur noch Einwanderer aus armen Ländern bereit sind, zu derartigen Konditionen zu arbeiten. Notfalls auch schwarz, ohne Rechte.

Prekäre Landwirtschaft

Am akutesten ist der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft und in der Gastro- und Tourismusbranche, denen von der Regierung die höchsten Quoten zugeteilt wurden. Der Bauernverband Coldiretti begrüßte die Kurskorrektur der Regierung und erinnerte daran, dass bereits heute ein Drittel allen Obstes und Gemüses, das in Italien in den Handel komme, von ausländischen Arbeitskräften geerntet werde. Aber auch beim Passagier- und Warentransport, im Gesundheitswesen und in der Fischerei sind die Löhne derart niedrig, die Arbeitsbedingungen derart schlecht, dass die Anstellung von Ausländerinnen und Ausländern meist die einzige Möglichkeit ist, die offenen Stellen zu besetzen.

Regierungschefin Meloni hatte ihre schrille ausländerfeindliche Rhetorik schon kurz nach ihrem Amtsantritt im vergangenen Oktober zu mäßigen begonnen und erklärt, dass sie nichts gegen legale Einwanderung habe – sie wolle lediglich die illegale Einwanderung und die Schlepperbanden bekämpfen. Belohnt werden mit dem neuen "decreto flussi" deshalb gezielt die – wenigen – Herkunftsländer, mit denen Italien über bilaterale Rückübernahme-Abkommen für illegal Eingewanderte verfügt: namentlich Tunesien, Marokko und Côte d'Ivoire. Damit will Meloni auch den anderen Herkunftsländern demonstrieren, dass es sich lohnt, ein Rückübernahme-Abkommen mit Italien oder am besten gleich mit der ganzen EU abzuschließen.

Doch weitere solche Abkommen sind zumindest heute nicht in Sicht – und gleichzeitig nimmt auch die illegale Einwanderung nicht ab, im Gegenteil. Im laufenden Jahr sind laut dem italienischen Innenministerium schon 78.000 Migranten und Flüchtlinge angekommen (Stand: 17. Juli 2023). Das sind mehr als doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Der größte Teil von ihnen stammt aus Ländern, mit denen weder Italien noch die EU über ein Abkommen zur Rückübernahme verfügt und die deshalb nicht ausgewiesen werden können. (Dominik Straub, 18.7.2023)