Maria Sterkl aus Jerusalem

"Ihr seid an die falsche Generation geraten!" und "Wir sind hier nicht in Polen!" – Nach sechs Monaten intensiver Straßenproteste in Israel sind die Slogans nun allen bestens bekannt, selbst Kleinkinder singen mit und schwingen dazu blau-weiße Fahnen. Am Dienstag war wieder einmal "Tag des Widerstandes", von sechs Uhr morgen an – geplantermaßen bis spät in die Nacht – wurden Straßen, Bahnhöfe und sogar Armeebasen blockiert. Zehntausende Israelis nahmen teil.

Video: "Tag des Widerstands" in Israel gegen Justizreform
AFP

Zugleich fährt die Regierung unter Benjamin Netanjahu mit dem, was sie "Justizreform" nennen, fort: Bereits kommenden Montag will sie einen ersten Teil des Pakets zur Entmachtung des Höchstgerichtes verabschieden. Wird Israel am Ende doch zu einer Demokratie polnischen Zuschnitts, weil die Proteste zwar den Straßenverkehr blockieren können, nicht aber eine rechts-religiöse Koalition, die entschlossen ist, das Demokratiegefüge entscheidend zu verändern?

Arye, ein 23-jähriger Ultraorthodoxer aus Jerusalem, ist überzeugt, dass die, die er "linke Demonstranten" nennt, irgendwann einsehen werden, "dass sie in diesem Land nicht mehr das Sagen haben". Während rund 200 Demonstranten vor dem Gewerkschaftsgebäude in Jerusalem demonstrieren, steht er am Rande und ruft immer wieder: "Das Volk verlangt nach einer Justizreform!"

"Linkes" Höchstgericht?

Arye, der in einem streng religiösen Viertel lebt und laut eigener Aussage die ultraorthodoxe Shas-Partei wählt, hält den Obersten Gerichtshof für ein "Organ der Linken". Als Beweis dient ihm, dass das Höchstgericht in einem Urteilsspruch Shas-Führer Arye Deri seines Amtes als Innen- und Gesundheitsminister enthoben hat. Absolut kein Verständnis dafür hat Arye, der davon überzeugt ist, dass der Richterspruch ganz anders ausgesehen hätte, wäre Deri ein säkularer Israeli, kein streng religiöser. "Warum darf Netanjahu im Amt bleiben und Deri nicht?", fragt Arye. "Etwa weil er Kippa und Vollbart trägt?"

Protestmarsch in Jerusalem gegen Premier Benjamin Netanjahu
IMAGO/DEBBIE HILL

Immer wieder hört man von Regierungsanhängern die Kritik, das Protestierenden wollten einfach nicht einsehen, dass sie eine Minderheit im Land seien. Dagegen spricht, dass Wahlen zum heutigen Zeitpunkt laut Meinungsumfragen ein ganz anderes Ergebnis bringen würden, und zwar eine Mehrheit für das Anti-Netanjahu-Lager. Diese Umfragen zeigen eine klare Verbindung zwischen diesem Stimmungswechsel im Land und den wiederholten Attacken der Regierung auf die Justiz.

Selbst Netanjahu-Wähler halten die Justizreform nicht für die wichtigste Priorität in Israel. Viel wichtiger ist ihnen die Sicherheit im Staat, aber auch das derzeit akut brennende Problem der steigenden Lebenshaltungskosten.

Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass viele dieser Likud-Wählerinnen und -Wähler sich aber auch nicht vorstellen können, von jemand anders als Netanjahu regiert zu werden. Dessen Regierung droht jedoch zu platzen, wenn der Likud sich bereit zeigt, der Protestbewegung entgegenzukommen. Zu groß ist der Druck aus mehreren Koalitionsparteien, an den Justizplänen festzuhalten.

Immer mehr Zulauf

Wie erfolgreich die Proteste letztlich sein werden, hängt vor allem davon ab, an wie vielen Fronten sie stattfinden. Derzeit weiten sich die Kampfschauplätze des Protestcamps aus: Ihm schließen sich nicht nur immer mehr Reservisten der Armee an – wie etwa zuletzt jener Eliteeinheit, in der auch Netanjahu einst diente.

Nun haben auch die Ärzte einen Warnstreik angekündigt: Für mindestens einen Tag sollen Kliniken und Krankenhäuser nur Notfälle behandeln. Der Gewerkschaftsbund Histadrut lehnt einen Generalstreik jedoch vorerst ab, was bei den Protestbewegungen für Zorn sorgt.

Herzog bei Biden: "Die israelische Demokratie ist "unverwüstlich

An der diplomatischen Front konnte Netanjahu einen Etappensieg feiern: Nach einem "langen, warmen Gespräch" mit US-Präsident Joe Biden am Montag habe ihn dieser ins Weiße Haus eingeladen, hieß es aus dem Büro des Ministerpräsidenten. Es wäre das Ende eines sechsmonatigen Besuchsboykotts Netanjahus seitens Washington. Eine offizielle Bestätigung aus dem Weißen Haus gab es bislang nicht.

Der israelische Präsident Izchak Herzog war bereits am Dienstag bei Biden. "Die israelische Demokratie ist solide, stark und unverwüstlich", sagte Herzog im Beisein seines Amtskollegen im Weißen Haus. Die Gesellschaft gehe durch eine schmerzhafte Zeit und schwierige Momente.

Der israelische Präsident Izchak Herzog und US-Präsident Joe Biden sitzen im Weißen Haus nebeneinander.
Der israelische Präsident Izchak Herzog (links im Bild) traf am Dienstag US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus.
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"Wir sollten immer versuchen, einen gütlichen Konsens zu finden", sagte Herzog. Er setze sich dafür ein, einen Ausweg aus der "Krise" zu finden. (Maria Sterkl, red, APA, 18.7.2023)