Wenn sich ein Kind ganz schwer konzentrieren kann, hyperaktiv ist und häufig impulsiv reagiert, sollten die Warnglocken läuten. Unter Umständen könnte es sich dabei nämlich um eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, handeln. Sie eine der häufigsten Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Schätzungen zufolge sind weltweit fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen betroffen – ein Wert, der in den vergangenen Jahrzehnten konstant hoch geblieben ist. Wird ADHS nicht frühzeitig erkannt und behandelt, können die Erkrankten teils bis ins Erwachsenenalter unter den Symptomen leiden.

App zur Alltagsbewältigung

Wie Betroffenen der Alltag erleichtert werden kann, wird im Rahmen des Projekts ELSA (eCounseling & Learning-System for Attention Deficit Hyperactivity Disorder) ausgelotet. Forschende der Fachhochschule Campus Wien entwickeln dabei eine App, die sich explizit an Eltern und Erziehungsberechtigte von Kindern mit ADHS richtet. Das zweijährige Projekt wird von der Stadt Wien im Rahmen der Ausschreibung "Forschung an den Wiener Fachhochschulen" mit 270.000 Euro gefördert.

Kind auf Rutsche
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, ist eine der häufigsten Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Sie sollte frühzeitig behandelt werden.
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"Nicht nur Kinder sind von ADHS betroffen, sondern auch das familiäre Umfeld", erläutert Projektleiterin Andrea Kerschbaumer. "Es ist für den Therapieerfolg folglich sehr wichtig, wie gut Eltern ihre Kinder unterstützen können. Und da setzen wir mit unserem Projekt an."

Für ADHS-Patienten stellen scheinbar triviale Aufgaben oft fast unüberwindbare Hürden dar. Im Fokus der App stehen deshalb Tipps, wie sich der Alltag einfacher meistern lässt. Basierend auf ergotherapeutischen Erkenntnissen werden konkrete Vorschläge für Handlungsabläufe, Übungen oder Checklisten angezeigt. Zum Beispiel wie man Schritt für Schritt den Arbeitsplatz für die Hausaufgaben vorbereitet. Oder wie man seine Jackenknöpfe schließt und öffnet.

Individuelle Vorschläge

Jeder Tipp gehört einem der drei Handlungsbereiche "Schule", "Freizeit" und "Zuhause" an. Zusätzlich wurde zu jedem Tipp ein professionelles Kurzvideo gedreht, in dem ein Bub oder ein Mädchen die Umsetzung vorzeigt. Eine Ergotherapeutin fasst in rund 90 Sekunden langen Tondateien die zentralen Inhalte zusammen.

Ein wesentliches Merkmal der App sind individuelle Vorschläge: Die Erziehungsberechtigten füllen zu Beginn der Nutzung ein Profil aus. Darin legen sie mittels einer fünfstelligen Skala fest, welche Aufgaben ihr Kind in welchem Ausmaß bereits bewältigt. Darauf basierend zeigt die App dann individuell besonders geeignete Tipps an.

Schrittweise zum Ziel

Die übrigen Tipps bleiben zwar ausgeblendet, können auf Wunsch aber jederzeit von den Nutzerinnen und Nutzern aufgerufen werden. "Ein Prinzip in der Ergotherapie ist, dass man eine Aufgabe oder Übung für einige Zeit umsetzt, bis sie gut funktioniert", erklärt Kerschbaumer. "Erst dann sollte man sich dem nächsten Tipp zuwenden."

Nachdenklicher Jugendlicher sitzt auf einem gepflasterten Boden.
Auch viele Teenager sind von ADHS betroffen. Therapie kann die Auswirkungen deutlich mildern.
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Die Entwickler haben darauf geachtet, die Nutzung niederschwellig zu halten, die Texte sind daher in gut verständlicher Sprache verfasst. Darüber hinaus gibt es ein integriertes Lexikon, in dem die wichtigsten Fachbegriffe erklärt werden.

Weitere Funktionen umfassen die Möglichkeit, geplante Aufgaben in den Kalender zu übertragen, sowie das Teilen von Tipps mit anderen Familienmitgliedern. Darüber hinaus gibt es einen einstellbaren Timer, der mitstoppt, wie lange das Kind für eine Aufgabe oder eine Übung braucht.

Selbsteinschätzung verbessern

Implementiert ist auch der sogenannte Drehzahlmesser. Dabei handelt es sich um ein Konzept aus der Ergotherapie, das Kindern dabei helfen soll, die Selbsteinschätzung bezüglich ihres Wachheitsgrades zu verbessern. Dazu dient eine – in der App virtuell umgesetzte – Drehscheibe, auf der man mit einer Nadel den Bereich des aktuellen Erregungszustandes von schläfrig bis völlig wach einstellen kann.

"Für bestimmte Alltagsaktivitäten braucht man eine bestimmte Erregung", erläutert Kerschbaumer den Hintergrund für die Vorgangsweise. "Wenn man müde ist, sollte man schlafen gehen, aber keine Hausaufgaben machen." Mithilfe des Drehzahlmessers lernen die Kinder folglich, ihre Erregung korrekt einzuschätzen, und vermeiden dadurch Frustrationen.

Fachliche Expertise

Die App wurde unter Einbeziehung von Ergotherapeuten, betroffenen Eltern, aber auch Kindern, die an ADHS leiden, entwickelt. Für alle Interessierteren soll sie ab Ende September kostenfrei zur Verfügung stehen, der Downloadlink wird auf der Projektseite bekanntgegeben.

Ausdrücklich will Kerschbaumer die Software nicht als Ersatz für eine Therapie verstanden wissen, sondern als Ergänzung. Allerdings ist es durchaus eine Zielanwendung der App, Familien während der Wartezeit bis zu einer Therapie zu unterstützen. "Die Ambulatorien gehen über, manche Kinder stehen jahrelang auf Wartelisten für eine Therapie", meint Kerschbaumer. Die App könne Familien in dieser Übergangsphase eine wichtige Unterstützung bieten. (Raimund Lang, 29.7.2023)