Sebastian Borger aus Uxbridge

Der heftige Regenschauer ist abgeklungen, schon lugt wieder die Juli-Sonne hinter der Wolke hervor. Die kleine Gruppe Konservativer macht sich bereit für ihre Begegnungen mit den Bewohnern der grandios klingenden Great Central Avenue, einer bescheidenen Vorortstraße im Nordwestlondoner Stadtteil South Ruislip. Brav folgt Chris Heaton-Harris den Anweisungen eines Parteimitarbeiters, klopft an diese Tür ("niemand zu Hause"), lässt jenes Haus aus ("ein treuer Labour-Wähler, den wollen wir nicht ärgern"), schiebt bei Nummer 97 ein Flugblatt durch die Tür.

Normalerweise sei ja um die Nachmittagsstunde kaum jemand anzutreffen, berichtet das Kabinettsmitglied zwischendurch dem STANDARD. "Seit der Pandemie haben die vielen Leute im Homeoffice die Planung verändert." Dennoch spricht der Nordirland-Minister an diesem Tag vor allem mit Alten oder Kranken, Menschen wie Helen Vaughan. Während die Reflexzonentherapeutin ihre drei Hunde in Schach hält, berichtet sie dem Besucher von den "furchtbaren Schmerzen", die sie dauerhaft an der Arbeit hindern. Das Wohlfahrtssystem sei "großer Mist". Ob sie deshalb der konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak einen Denkzettel erteilen wolle? "Darüber habe ich nachgedacht", sagt Vaughan. "Aber der Labour-Kandidat ist nicht von hier, außerdem bin ich gegen Ulez. Ich bleibe bei den Tories."

Boris Johnson Großbritannien
Trotz seines unrühmlichen Abgangs als Premier ist Boris Johnson weiterhin beliebt.
APA/AFP/JUSTIN TALLIS

Auf Leute wie Vaughan setzt Großbritanniens Regierungspartei alle Hoffnung im Bezirk Uxbridge und South Ruislip, der seit mehr als 50 Jahren nur Konservative ins 25 Kilometer entfernte Unterhaus an der Themse geschickt hat. Dass hier kurz vor den Sommerferien Wahlkampf nötig wurde, hat mit dem britischen Mehrheitswahlrecht zu tun, wonach Personen, nicht Parteien gewählt werden – und mit dem vorherigen Mandatsträger, einem gewissen Boris Johnson. Anfang Juni kam der diskreditierte, fortgesetzter Lügengeschichten überführte Ex-Premier (59) einem für ihn brutalen Untersuchungsbericht des Ältestenrats zuvor und schmiss den Bettel hin.

Boris Johnson nicht zu sehen

Seither widmet sich der Vater von mindestens acht Kindern wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Geldverdienen. Dem konservativen Kandidaten auf seine Nachfolge, dem 54-jährigen lokalen Kommunalpolitiker Steve Tuckwell, hat er in einem 30 Sekunden dauernden Telefonat seine Unterstützung zugesichert; blicken lässt sich Johnson vor Ort nicht.

Das scheint allen Beteiligten ganz recht zu sein. Software-Ingenieur Arun Mummalaneni gehört zu den vielen Hindus und Muslimen südasiatischer Abstammung, die wie Premier Sunak in der Tory-Party ihre politische Heimat gefunden haben. Tuckwell finde er gut, "der gehört hier in die Gegend, anders als der Labour-Kandidat". Eine Rückkehr Johnsons in die Politik? Da wägt Mummalaneni seine Worte sorgfältig, ehe er sagt: "Ach, vielleicht lieber nicht. Er war doch schon Premierminister."

Steve Tuckwell Tories
Steve Tuckwell
Tory-Kandidat Steve Tuckwell (Mitte) mit einigen seiner Wahlhelfer vor dem konservativen Club in Uxbridge.
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Und was für einer! Die Labour-Wahlkämpfer begannen ihre Kampagne Mitte vergangenen Monats mit massiven Angriffen gegen Johnson, dessen verpfuschte Amtszeit und häufige Corona-Partys. Nach einer Woche aber wurde eine Kursänderung nötig: "Die Leute lieben Boris immer noch", sagt ein Partei-Insider zur Begründung und schüttelt den Kopf. Statt weiterhin auf Boris-Bashing setzt die alte Arbeiterpartei jetzt auf einen Appell an den nackten Materialismus der Wählerschaft. Labour werde "mehr Geld in die Taschen der Menschen und Geschäfte vor Ort stecken", verspricht der Wahlzettel, den Freiwillige in West Drayton unter die Leute bringen.

Labour nur schwer zu greifen

Wie die Menschen vor Ort die Wahlwerbung der Oppositionspartei für den aus dem Zentrallondoner Bezirk Camden stammenden Kandidateb Danny Beales aufnehmen? Der "Financial Times" berichtete der 34-jährige Kommunalpolitiker, er erhalte "wirklich warme Reaktionen" an den Haus- und Wohnungstüren, wo Wahlkampf auf der Insel bevorzugt stattfindet. Überprüfen durfte das die FT-Journalistin offenbar ebenso wenig wie eine über Parteigrenzen hinweg angesehene Autorin des konservativen Magazins "Spectator": Sie habe "bei keiner Nachwahl der vergangenen zehn Jahre", klagte Isabel Hardman, vergleichbare Schwierigkeiten gehabt, mit Labour-Leuten ins Gespräch zu kommen. Für ausländische Reporter gilt dies umso mehr: Örtliche Freiwillige verweisen verlegen auf den Pressesprecher, dieser bescheidet höfliche Anfragen nach stundenlanger Verzögerung mit vier Wörtern: "No. Sorry, thank you."

Woher die Nervosität rührt? Unter ihrem Vorsitzenden Keir Starmer liegt Labour doch seit Monaten in den Umfragen um bis zu 20 Prozent vor den Tories. Die Wirtschaftslage bleibt düster, die Briten stöhnen unter hoher Inflation von mehr als acht Prozent, die Hauskreditzinsen schnellen in die Höhe. Normalerweise dienen Nachwahlen der Bevölkerung stets als willkommene Gelegenheit, ihrer ungeliebten Regierung eine saftige Watschn zu erteilen.

In den beiden Bezirken, wo die Menschen am Donnerstag zur Urne gerufen sind, sieht alles nach Siegen für die Opposition aus, obwohl die Tories dort jeweils Mehrheiten von rund 20.000 Stimmen verteidigen. Johnsons Vorsprung vor seinem Labour-Mitbewerber lag 2019 bei vergleichsweise knappen 7.210 Stimmen, Uxbridge sollte also eigentlich leichte Beute darstellen.

Streitpunkt Ulez

Dass das Rennen wenige Tage vor der Wahl keineswegs gelaufen zu sein scheint, dürfte mit dem Kunstwort Ulez zu tun haben, das Wählerinnen wie Helen Vaughan so erbost. Dahinter versteckt sich die "Ultra Low Emission Zone", die Londons Bürgermeister Sadiq Khan vor vier Jahren in den inneren Stadtbezirken eingeführt hat. Seither dürfen dort alte Autos und Lieferwagen mit schlechten Abgaswerten (weniger als Euro vier für Benziner und Euro sechs für Dieselmotoren) nur noch gegen Entrichtung einer täglichen Gebühr von umgerechnet rund 15 Euro gefahren werden.

Weil das Gebührensystem Ende August auf Gesamtlondon ausgedehnt werden soll, befinden sich die Außenbezirke seit Monaten in Aufruhr, die örtliche Bezirksregierung von Hillingdon hat den Bürgermeister sogar gerichtlich verklagt. Man sei nicht ausreichend angehört worden, zudem fehle die wissenschaftliche Begründung für die Notwendigkeit der Abgasreduktion, lauten die Argumente.

Chris Heaton-Harris Tories
Helen Vaughan freut sich über den Besuch von Nordirland-Minister Chris Heaton-Harris. Trotz Unzufriedenheit mit der Regierung will sie auch diesmal ihr Kreuz bei den Konservativen machen.
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Zum Vorschein komme da, glaubt ein langjähriger Beobachter, dass Wohnviertel wie Uxbridge an der Peripherie der Hauptstadt seit 1965 zwar Teil von "Greater London" sind, "sich aber nicht wirklich zugehörig fühlen". Ruislip wie Uxbridge liegen am Ende von U-Bahn-Linien, die eigentlich eher einer S-Bahn ähneln; Uxbridges schmucker Endbahnhof steht sogar unter Denkmalschutz. Hier endet ein Zweig der Metropolitan Line, deren erste Bahnhöfe 1863 mitten in London eröffneten. Berühmtheit erhielten die Linie und das angrenzende "Metroland" aber in den 1920er-Jahren durch die nordwestliche Ausdehnung an die Stadtgrenze und darüber hinaus.

Längst hat das Automobil die S-Bahn als bevorzugtes Transportmittel überholt; Abgas- und damit auch Klimaschutz gelten all jenen als Luxus, die täglich mit hohen Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben. Wer den alten Lieferwagen oder das Auto täglich braucht, ist zukünftig etwa 450 Euro pro Monat ärmer. Vergeblich verweist Khans Verkehrsbehörde TfL darauf, schon jetzt würden "90 Prozent aller Fahrzeuge in Londons Außenbezirken" den geforderten Emissionswerten entsprechen. Zudem gebe es doch großzügige Übergangsfristen für Arme und Menschen mit Behinderung.

Polizeiwache geschlossen

Die Konservativen haben sich geschickt das anhaltende Unwohlsein der Leute vor Ort zunutze gemacht und die Nachwahl zu einer Art Mini-Referendum gegen Khans Umweltpolitik umgemodelt. Die Wahlbroschüre der Tories zeigt auf acht Seiten neun Fotos des "lokalen Kandidaten" Tuckwell, wettert gegen Ulez und die Schließung der lokalen Polizeiwache – auch Letzteres lässt sich mit einigem Recht Khan zur Last legen, wenn dieser die Aufsicht über die Polizei auch mit der (konservativen) Innenministerin teilt. Hingegen ist von der weitgehend gescheiterten Politik der Tory-Regierung nach 13 Jahren im Amt natürlich nicht die Rede.

Er bleibe "der Underdog", wiegelt Kandidat Tuckwell ab, ehe er sich Selfies mit freundlichen Wählerinnen zuwendet. "Aber es sieht besser aus als vor einigen Wochen." Spricht's und lässt sich gegen den nächsten Regenschauer einen Schirm reichen. (Sebastian Borger aus Uxbridge, 20.7.2023)