Allzu viele Österreich-Bezüge finden sich – abgesehen von den großen Verwerfungen und Verbrechen in der gemeinsamen deutsch-österreichischen Geschichte – in Tom Segevs Erinnerungen nicht, aber aussagekräftig sind sie allemal, die Episoden, die von Bruno Kreisky, Simon Wiesenthal und dem Umgang mit "ehemaligen" und aktiven Nazis handeln.

Aktuelle Proteste gegen Premier Benjamin Netanyahu.
AP/Ariel Schalit

In einem Kapitel seiner Jerusalem Ecke Berlin genannten Memoiren erinnert sich Tom Segev an eine Begegnung mit dem streitbaren "Sonnenkönig" im Schatten des Streites zwischen dem "Nazi-Jäger" und dem Bundeskanzler, als dieser einen SS-Mann zum Außenminister der Republik ernennen wollte. Im Zuge eines Interviewtermins, gemeinsam mit Ron Ben-Yisha, elaborierte Kreisky weltmännisch über Metternich, den Wiener Kongress, Krinolinenkleider, seine jüdische Herkunft und seine österreichische Identität. Kritisch war Kreiskys Haltung gegenüber dem Zionismus und dem Staat Israel. Off the Record meinte der streitbare Kanzler: "Der Zionismus ist eigentlich doch eine ziemlich rassistische Angelegenheit." Ein Bekenntnis, das auf diversen Schriften basierte, die im Büro am Ballhausplatz gestapelt mit einer angebissenen Mozartkugel garniert waren.

Bruno Kreiskys Hauptthese, so schreibt Segev, "besagte, dass die Israelis in einem großen Irrtum lebten: Sie dächten, sie gehörten dem jüdischen Volk an, doch tatsächlich gebe es sowas gar nicht. Als Erstes, sagte Kreisky, wolle er etwas betonen, was er schon einmal Frau Golda Meir zu erklären versucht habe, soweit sie ihn denn den Mund habe auftun lassen: Er sei nicht gegen die Existenz des Staates Israel. Er betrachte ihn wie jeden anderen Staat. Er wolle auch keineswegs sagen, dass es im Staat Israel kein Volk gebe. Es lebe dort ein Volk, das israelische Volk. Er verglich die Israelis mit den Nachkommen der Auswanderer, die mit der Mayflower an der Küste Nordamerikas gelandet waren. All das mache sie aber nicht zu Angehörigen eines jüdischen Volkes. Denn das Judentum sei eine Religion. Über die Generationen seien an verschiedenen Orten der Welt jüdische Religionsgemeinden entstanden, die einen gemeinsamen religiösen Glauben und entsprechende Rituale teilten." Bruno Kreisky, seit seiner Jugend konfessionslos, wurde als Verräter betrachtet, und, so meinte er, es seien ihm grundlos, aus Bosheit und Dummheit "jüdische Identitätskomplexe" zugeschrieben worden.

Auf die Rolle Österreichs während des verbrecherischen Nazi-Regimes angesprochen, erklärte er, "er fühle sich den guten wie den schlechten Seiten seines Landes verbunden und teile auch die historische Verantwortung, die das österreichische Volk wegen seiner Vergangenheit zu tragen habe".

Deutsches Erbe

Das Kapitel über Bruno Kreisky ist aber nur eine der vielen interessanten Episoden, Anekdoten und Erinnerungen voll atmosphärischer Dichte, historischer Genauigkeit und persönlicher Erkenntnis. Der Historiker Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren und gehört seit über 50 Jahren zu den klügsten Beobachtern der deutsch-israelischen Geschichte. International bekannt wurde er 1995 durch sein Buch Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Für Es war einmal ein Palästina wurde er 2005 mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet.

Segevs Eltern lernten sich am Bauhaus in Dessau kennen und flohen 1935 nach Palästina, in der verzweifelten Hoffnung, einmal in die Heimat zurückzukehren. Der Vater starb im ersten arabisch-israelischen Krieg, seine Mutter blieb daraufhin mit Sohn Tom in Israel. Dennoch sollte den heute in Jerusalem lebenden, international geschätzten Historiker und Publizisten sein deutsches Erbe nie wieder loslassen. Seit über fünf Jahrzehnten gehört Tom Segev zu den aufmerksamsten und klügsten Beobachtern der deutsch-israelischen Geschichte. Streitbar und leidenschaftlich, mit Ironie und Wärme erzählt Tom Segev sein Leben, vom Karrierebeginn in Jerusalem bis zum Ende der DDR, von seinen Begegnungen mit Markus Wolf und Nelson Mandela, Fidel Castro, Mutter Teresa und Hannah Arendt, Willy Brandt, Helmut Schmidt, David Ben-Gurion, Yassir Arafat, Heinrich Böll, Gabriel Stern, Günter Grass und vielen mehr.

Tom Segev, "Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen". € 32,90 / 416 Seiten. Siedler-Verlag, München 2022
Jerusalem Ecke Berlin: Siedler Verlag

Bewegend beschreibt er, wie er sich auf der Suche nach dem Verständnis der deutschen Identität auch mit den historischen Lasten Israels konfrontiert. So schreibt Segev: "Zuweilen fand ich den Staat Israel unausstehlich, aber rückblickend ist mir klar, dass ich hiergeblieben bin, weil das, was ich hier liebe, das übertrifft, was ich abscheulich finde. Neben dem Krieg, dem Terror und der Unterdrückung verabscheue ich den Fanatismus, den Rassismus, den Nationalismus und die Diskriminierung. Ich liebe viele Menschen und meine Arbeit, die hebräische Sprache, die Freiheit, Spontanität und Solidarität, die Demokratie, soweit sie intakt ist. (…) Ich kenne kein fesselnderes menschliches Mosaik; fast jeder Israeli hat seine Geschichte. Eigenartigerweise liebe ich sogar meine begrenzte Zugehörigkeit und die schwierige Definition, wer ich eigentlich bin." (Gregor Auenhammer, 30.7.2023)