Gabriella "Gabs" Chihan Stanley mit ihrem bevorzugten Arbeitsgerät: dem VR-Headset, in diesem Fall eine Meta Quest Pro. Im Hintergrund: ihr Partner Axel Dietrich.
Heribert Corn

Gerade noch war die Szene idyllisch: Soeben erkundeten wir die Wildnis des Unesco-Weltnaturerbes in Dürrenstein in Niederösterreich. Doch plötzlich ändert sich die Szenerie: Clowns, die auch gut aus Stephen Kings "Es" stammen könnten, sitzen an einer Tafel und verlangen offenbar nach Nahrung. Aus der Ego-Perspektive wird schnell klar: Der Hauptgang sind wir.

Zum Glück handelt es sich nur um eine Demo, aber sie zeigt, wozu Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) heute schon imstande sind. Die Technologie ist gerade dabei, den Kinderschuhen zu entwachsen, und soll das nächste große Ding nach dem Smartphone werden.

In den Räumen eines typischen Wiener Altbaus im zweiten Wiener Gemeindebezirk arbeiten die Vorreiterinnen und Vorreiter der Branche an der Zukunftstechnologie. Bei Vrisch (gesprochen wie "frisch") wird Theater gespielt, eine Ausstellung geplant, sich in der Geisterbahn gegruselt oder ein Hubschrauber gesteuert, alles vom Konferenzzimmer aus. Früher hätte sich ein typisches Kleinunternehmen auf eine Branche spezialisieren und eine Entscheidung treffen müssen, ob man nun Geisterbahnen designt oder doch lieber Kindern Wissen über die Natur vermittelt – dank VR-Technologie ist aber beides möglich.

Gabriella Chihan Stanley und Axel Dietrich sind nicht nur privat ein Paar, sie sind auch die Co-Gründer des Wiener Unternehmens. Kennengelernt haben sich die beiden in Barcelona über ihre Jobs. Beide arbeiteten als Freelancer in der Werbebranche, sie im Bereich digitale Kunst, er als digitaler Filmemacher. Auch in Barcelona ist die digitale Werbebranche nicht riesig, und so liefen sich der Österreicher und die Paraguayerin immer wieder über den Weg. "Wir teilten die Faszination für Technologie", erklärt Stanley beim Besuch des STANDARD, und irgendwann waren die beiden nicht nur private, sondern auch geschäftliche Partner. Dazu kam nicht nur die Liebe für Technologie, sondern auch die gemeinsame Leidenschaft für Filme und Vergnügungsparks – aus diesen drei Elementen entstand Vrisch. 2019 war das, mittlerweile ist das Unternehmen auf acht Köpfe angewachsen.

Gabriella Chihan Stanley spielt Sherlock Holmes
Sherlock Holmes ermittelt in einer Mischung aus Theaterstück und VR-Abenteuer.
Heribert Corn

Doch warum ausgerechnet Virtual Reality, eine Technologie, die seit Jahrzehnten immer gehypt wird, nur um danach wieder zu verschwinden, bevor sie einige Jahre später wieder auftaucht? "Bist du in der virtuellen Realität, richtest du darauf deine ungeteilte Aufmerksamkeit, und das ist in Zeiten von Social Media schon sehr selten geworden", sagt Dietrich. VR vermittelt eine eigene Faszination, setzt man das Headset auf, sei man plötzlich in einer anderen Welt. Und: Das Medium erlaubt neue Wege, Geschichten zu erzählen.

Sherlock Holmes ermittelt dank Technologie aus Wien

Etwa mit der VR-Anwendung "Sherlock Holmes and The Case of the Hung Parliament": In einer Mischung aus Videospiel-Adventure und Live-Theater müssen die Nutzerinnen und Nutzer Hinweise sammeln und Verdächtige verhören. Diese werden in der virtuellen Realität aber nicht von den ansonsten üblichen pixeligen Figuren dargestellt, sondern von echten Schauspielern der britischen Theaterkompanie Les Enfants Terribles. Als Zuschauerin oder Zuschauer übernimmt man die Hauptrolle und darf eines der Abenteuer durch die Augen des Meisterdetektivs absolvieren.

Die Idee dazu kam in Corona-Zeiten. Als die Theater dieser Welt geschlossen waren, wollte die Gruppe ihr Publikum dennoch unterhalten und führte das Stück via Zoom auf, indem ein Schauspieler mit einem Smartphone die Augen von Sherlock Holmes übernahm. Bei Vrisch wurde man auf diese Idee aufmerksam und bot an, ein vollständiges VR-Erlebnis aus dem Stück zu machen. Wenig später stand das Team aus Wien mit einer 360-Grad-Kamera auf der Theaterbühne und fing die Schauspielerinnen und Schauspieler sowie die Kulissen ein.

Gabriella Chihan Stanley und Axel Dietrich haben Vrisch gegründet.
Heribert Corn

Auch Lehrerinnen und Lehrer hätten bereits Interesse an dem Stück bekundet. Es soll den Englischunterricht spannender gestalten. Außerdem soll es schon bald die Möglichkeit geben, eine Box mit vier Headsets zu leihen, damit man den Kriminalfall gemeinsam in den eigenen vier Wänden mit Freundinnen und Freunden lösen kann – in Form einer Dinner-and-Crime-Party mit VR-Brillen.

Digitales Theaterarchiv

Mit den Aufnahmen ist außerdem ein Stück Kultur gesichert worden. Denn: Mit der VR-Technologie aus Wien sei es erstmals möglich, Vergängliches wie ein Theaterstück mit seinem gesamten Inhalt für die Nachwelt festzuhalten und zu archivieren. Wer will, kann es auf Wunsch erneut erleben, dafür muss man nur eine handelsübliche VR-Brille wie die Meta Quest aufsetzen, und die Anwendung startet. Aber noch sind VR-Headsets nicht so stark verbreitet. Aktuell arbeitet das Wiener Unternehmen daran, die Inhalte auch ohne die Brillen erlebbar zu machen.

Für Wien haben sich Gabriella Chihan Stanley und Axel Dietrich nicht nur aus familiären Gründen entschieden: "Die Unterstützung für Frauen, wenn sie ein Unternehmen gründen wollen, ist viel besser als anderswo", berichtet Stanley mit Verweis auf ihre Heimat in Paraguay.

Gesunde Entwicklung statt Hype-Welle

Dass VR diesmal wieder in der Versenkung verschwinden wird, das glaubt man bei Vrisch nicht. "Das Schlechte an vergangenen Hype-Wellen war die Enttäuschung, wenn sie vorbei waren und sich die Technologie nicht so durchgesetzt hatte, wie sich das manche gewünscht hätten", sagt Dietrich. Diese Wellen werden aber kleiner, die Aufregung ist nicht mehr ganz so groß, und das tue auch der Entwicklung der Technologie gut. "Ich erwarte in den nächsten Jahren keine ganz großen Sprünge, aber eine kontinuierliche Weiterentwicklung."

Eine der Hype-Wellen habe dazu geführt, dass viele Menschen meinen, ihnen würde von VR-Anwendungen schlecht. Damals wurde die Technologie mit Achterbahnen und actionorientierten Games beworben – und man vergraulte damit eine Kundschaft, die zwar an der Technologie interessiert war, aber leicht Symptome der VR-Krankheit, also Schwindel und Übelkeit entwickelt. Weniger aufregende Anwendungen seien für die meisten Menschen aber kein Problem, sagt das Gründerpaar. Mit dem Vorurteil habe die Technologie bis heute zu kämpfen.

Wann es so weit sein wird, dass VR- oder AR-Brillen ganz selbstverständlich wie Smartphones verwendet werden, lasse sich nicht voraussagen. Aber: Es werde die Zeit kommen, wenn man nicht mehr über die Anschaffung der Hardware diskutieren müsse, sondern über die Inhalte auf den Geräten, meinen die beiden Vrisch-Gründer. Noch sei es umgekehrt: Der Anschaffungspreis von mindestens 350 Euro für ein Einsteigergerät sei heute vielen noch zu hoch, vor allem wenn der Nutzen noch begrenzt wirkt. Das werde sich aber schnell ändern, wenn die großen der Tech-Branche wie Apple oder Samsung stärker in VR und AR investieren.

Kindern die Angst vor der Dunkelheit nehmen

Im zweiten Bezirk wird aber nicht nur Sherlock Holmes auf die Reise geschickt. In Zusammenarbeit mit den Bundesforsten entstand ein virtuelles Erlebnis im Weltnaturerbe Dürrenstein. Der Zutritt dort ist beschränkt, dank der neuen Technologie können auch Kinder die Artenvielfalt in einem der letzten Naturreservate Österreichs erleben. Oder die eingangs erwähnte Geisterbahn: Wer mutig genug ist, kann im Prater versuchen, den Gruselclowns zu entkommen. Für einen Tiroler Lampenhersteller hat man ein VR-Spiel namens "Lamps versus Zombies" entwickelt und eine virtuelle Umgebung geschaffen, die Kindern die Angst vor der Dunkelheit nehmen soll.

Aktuell wird an einem Programm namens Arvus gearbeitet. Auf den ersten Blick handelt es sich um einen üblichen digitalen Raumplaner, in den man per Tablet verschiedene Elemente im Raum verteilt. Hier ein Regal, da ein Kasten, die Vitrine dort, man kennt das von den Onlineauftritten diverser Möbelhäuser. Doch mit Arvus kann man nahtlos in die VR-Ebene wechseln: VR-Brille auf den Kopf und gleich durch den selbst erstellten Raum wandern. Das ist für das Wohnzimmer zu Hause praktisch, Galerien und Museen können mit der Technologie weit mehr anstellen und etwa Sonderausstellungen nur mit Fingergesten planen. Aktuell wird Arvus in einer Galerie in Vorarlberg erprobt. Auch hier spielt wieder der Gedanke der digitalen Archivierung mit: Hat man die Ausstellung verpasst, kann man sie immer noch virtuell nachholen.

Aktuell wird an einer Variante von Arvus gearbeitet, die modrige und dunkle Verliese sowie Monster darstellen kann. Eingefleischte Nerds ahnen bereits, worum es geht: Vrisch arbeitet an einer VR-Variante des populären Tischrollenspiels "Dungeons & Dragons".

Dass sich VR durchsetzt, davon ist man bei Vrisch überzeugt: "Wir erleben gerade, dass die Menschen die Skepsis gegenüber der Technologie verlieren und wie diese durch Neugierde ersetzt wird", sagt Gabriella Chihan Stanley. (Peter Zellinger, 12.9.2023)