Der moderne Mensch und seine Vorfahren entstanden in Afrika und eroberten von dort aus die Erde: Unter dem Begriff "Out of Africa" ist das die weithin akzeptierte Standardversion der Menschheitsgeschichte. Belege dafür sind die ältesten bekannten Fossilien von Homo erectus und Homo sapiens, die jeweils aus Ostafrika stammen. Die von Homo erectus werden auf ein Alter von 1,8 Millionen Jahren geschätzt und die von Homo sapiens auf rund 230.000 Jahre.

Out of Africa oder doch China?

Doch es gibt nach wie vor Anhänger alternativer Ursprungsgeschichten. Nicht zuletzt in China versucht man mittels Fossilien zu beweisen, dass Ostasien eine weitere Wiege der Menschheit oder zumindest von ausgestorbenen Menschenformen gewesen sein könnte. Als ein Beispiel gelten seit einigen Jahren Funde in der ostchinesischen Höhle Hualong, die auf ein Alter von rund 300.000 Jahren geschätzt werden.

Bei der Erstbeschreibung 2015 ging man davon aus, dass es sich dabei um eigene, späte Vertreter von Homo erectus handelt. Doch 2020 entdeckten chinesische Forschende um die Paläoanthropologin Xiujie Wu in der Hualong-Höhle das Fragment eines Unterkiefers, der vermutlich einem 13-jährigen Teenager gehörte, von dessen Schädel bereits einige Teile gefunden worden waren.

Hualongdong Homo sapiens Paläoanthropologie
Digitale Rekonstruktion des in der Hualong-Höhle in Ostchina gefundenen Schädels eines Jugendlichen, der vor 300.000 Jahren lebte. War er ein Vorfahr oder Verwandter des modernen Menschen?
Xiujie Wu / Erik Trinkaus

Vergleiche des Unterkiefers mit 83 anderen Kieferknochen verschiedener Menschenarten von Homo erectus über Homo neanderthalensis bis Homo sapiens bestätigten eine seltsame Mischung aus alten und modernen anatomischen Merkmalen, wie das Team um Wu im "Journal of Human Evolution" nun berichtet. Diese Eigenschaften vertiefen das Rätsel, welche Menschenform diese Region im heutigen Ostchina vor rund 300.000 Jahren besiedelte. Bezeichnet wird sie vorläufig als Hualongdong-Mensch.

Ähnlicher Fund in Marokko

Diese neue Menschenart (oder besser: Menschenform) könnte wie die Neandertaler oder Denisovaner einfach irgendwann ausgestorben sein. Xiujie Wu vermutet hingegen, dass der Hualongdong-Mensch ein bisher unbekannter Vorfahre oder naher Verwandter des frühen Homo sapiens gewesen sein könnte. Völlig aus der Welt ist diese Vermutung nicht. Der Fund ist jedenfalls nicht der einzige aus der Zeit vor rund 300.000 Jahren, der Rätsel aufgibt.

Der Unterkiefer aus der Hualong-Höhle ähnelt jenen Überresten, die Anfang der 2000er-Jahre an der archäologischen Stätte Jebel Irhoud in Marokko gefunden wurden und ähnlich gemischte Merkmale von alt und modern aufweisen. In jedem Fall sind weitere Fossilien und Studien erforderlich, um die Position dieser Funde aus Nordwestafrika und Ostchina im Stammbaum des modernen Menschen besser zu verstehen. (Klaus Taschwer, 25.9.2023)