Die Temperatur liegt stets bei 16 Grad, die Luftfeuchtigkeit beträgt konstant 45 Prozent – optimale Bedingungen, um Exponate aus Kunststoff möglichst lange Zeit konservieren zu können. Hier, in den Tiefen des Archivs im Museum für Gestaltung Zürich, öffnet eine Mitarbeiterin einen grauen Schrank, neben ihr steht Markus Freitag mit freudig gespanntem Gesichtsausdruck. Denn gleich kommt es zu einem Wiedersehen mit einer seiner eigenen Kreationen. Es handelt sich um den ersten Prototyp einer Freitag-Tasche, die die Fachfrau vorsichtig mit blauen Plastikhandschuhen aus dem Kasten hebt. "Eine schöne Begegnung", kommentiert der Schweizer Designer diesen Moment ganz bescheiden. Er habe sich gar nicht mehr an alle Details der Tasche erinnern können. Schon vor 15 Jahren sei sie dem Museum übergeben worden, davor irgendwo in einer Kiste herumgelegen. Entstanden ist die Umhängetasche aus gebrauchter Lkw-Plane vor 30 Jahren. Es war der Startschuss für ein Projekt, das das Leben von Markus Freitag und seinem Bruder Daniel seither maßgeblich beeinflusst. Denn was als DIY-Accessoire begonnen hat, ist heute ein global agierendes Unternehmen mit 250 Mitarbeitenden und einem jährlichen Produktionsvolumen von rund 500.000 Taschen und Accessoires. Die beiden Brüder begleiten die Firma heute als Verwaltungsräte in der zweiten Reihe. Operativ wird das Unternehmen Freitag von einem fünfköpfigen Team geleitet, anstatt weiterer Hierarchieebnen gibt es "Fachkreise", die selbstorganisiert arbeiten. Holokratie nennt sich das.

Daniel und Markus (re.) Freitag haben 1993 begonnen, Taschen aus gebrauchten Lkw-Planen zu verkaufen.
Daniel und Markus (re.) Freitag haben 1993 begonnen, Taschen aus gebrauchten Lkw-Planen zu verkaufen.
Fotos: Elias Bötticher, Roland Tännler, Freitag

Man mag die Freitag-Tasche cool finden oder auch nicht, aber dass sie zum Designklassiker avanciert ist, lässt sich kaum bestreiten. Nicht umsonst ist sie Teil des Archivs im Museum für Gestaltung Zürich, und auch das Museum of Modern Art (MoMA) in New York hat eine in seiner Sammlung. Mit ihrem Konzept waren die Freitag-Brüder 1993 Pioniere, sie schenkten den ausgemusterten Lkw-Planen ein zweites Leben, zu einer Zeit, in der kaum von "Nachhaltigkeit" die Rede war.

Der erste Prototyp ist Teil der Sammlung im Museum für Gestaltung Zürich.
Der erste Prototyp ist Teil der Sammlung im Museum für Gestaltung Zürich.
Fotos: Elias Bötticher, Roland Tännler, Freitag

Ambitioniertes Ziel

Heutzutage ist dieser Begriff überstrapaziert. Das Schlagwort der Stunde lautet "Zirkularität". Als Gegenthese zur Wegwerfgesellschaft versucht man bei zirkulären Wirtschaftsansätzen in Kreisläufen zu denken, den Lebenszyklus von Produkten zu verlängern und die eingesetzten Materialien möglichst wieder in den Herstellungsprozess zu integrieren. Mit der Zirkularität verhält es sich aber ähnlich wie mit der Nachhaltigkeit. Sie verkommen oft zum zeitgeistigen Mascherl, das sich Unternehmen umhängen, anstatt die dahinterstehenden Prinzipien tatsächlich zu leben. "Es ist problematisch, wenn ein Begriff Abnützungserscheinungen zeigt, noch bevor man am Ziel ist", sagt Markus Freitag. Für Konsumentinnen und Konsumenten sei es heute schwierig zu erkennen, welche Marken ihre ökologischen Bestrebungen ernst meinten und welche bloß "Greenwashing" betrieben. Freitag bietet auf der Unternehmenswebsite einen "Impact Report", in dem Informationen zu Geschäftsfeldern und ökologischen Auswirkungen Transparenz schaffen sollen. Auch was die Firma zukünftig vorhat, ist darin ersichtlich – nämlich bis 2030 zirkulär wirtschaften zu können. Ein ambitioniertes Ziel, an dessen Erreichung auf allen Ebenen von Material bis Dienstleistungen gearbeitet wird.

Bei Freitag werden nicht nur Lkw-Planen recycelt. Frachtcontainer verwandelte man in Zürich zum Flagship-Store samt Aussichtsturm.
Bei Freitag werden nicht nur Lkw-Planen recycelt. Frachtcontainer verwandelte man in Zürich zum Flagship-Store samt Aussichtsturm.
Fotos: Elias Bötticher, Roland Tännler, Freitag

Wie das funktionieren kann, führt Freitag ausgerechnet mit jenem Artikel vor, der bis jetzt am wenigsten den Nachhaltigkeitsansätzen entsprach: die iPhone-Handyhülle. Sie unterliegt den Produktlebenszyklen von Apple: Wird das Format des Telefons verändert, muss eine neue Hülle her, die alte wird weggeworfen. Das Freitag-Circ-Case hingegen ist kreislauffähig. Es wird aus ausgemusterten Skischuhen hergestellt und kann auch wieder recycelt werden. Dafür braucht es aber auch die Mithilfe der Kundschaft. Sie muss die Hülle in einen Freitag-Store bringen. Kreislaufwirtschaft geht eben über die Unternehmensgrenzen hinaus.

Das zeigt sich in dem Projekt namens "Circular Tarp". Gemeinsam mit Partnerfirmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette forscht man seit drei Jahren an kreislauffähigen Lkw-Planen. So soll die klassische Freitag-Tasche zukünftig nicht nur aus recyceltem Material gefertigt werden, sondern auch wieder recycelt werden können, erklärt Anna Blattert, Circular Technologist bei Freitag. Trotz vielversprechender Testergebnisse wird es noch länger dauern, bis man bei der Lkw-Plane den Kreislauf schließen kann.

Fast wie neu!

Bereits jetzt setzt Freitag verschiedene Maßnahmen, das Leben der kultigen Taschen zu verlängern. So kann man ramponierte Modelle einschicken und reparieren lassen. Beim Besuch im Freitag-Headquarter in Zürich-Oerlikon mischt eine Mitarbeiterin gerade den richtigen Farbton für eine Reparatur zusammen. Das flüssige PVC streicht sie auf die Stellen, an denen die Schicht gebrochen ist, und erhitzt es mit einer Art Föhn. So entsteht wieder eine einheitliche Oberfläche. Auch kaputte Schnallen, Reißverschlüsse und andere Bestandteile können repariert werden. 20 Minuten bis zwei Stunden braucht sie für eine Tasche, erklärt die Mitarbeiterin. Ungefähr ein Drittel der tatsächlichen Reparaturkosten muss die Kundschaft dafür berappen (den Rest übernimmt Freitag) und circa einen Monat lang auf ihre Tasche verzichten.

Um ihren Produktlebenszyklus zu verlängern, können Freitag-Taschen zur Reparatur eingeschickt werden.
Um ihren Produktlebenszyklus zu verlängern, können Freitag-Taschen zur Reparatur eingeschickt werden.
Fotos: Elias Bötticher, Roland Tännler, Freitag

Wer ein Freitag-Produkt loswerden will, braucht es nicht wegwerfen, sondern kann mit anderen Freitag-Fans über eine Art "Taschen-Tinder" tauschen. Man swipt sich durch die Modelle, bei gegenseitigem Gefallen tritt man in Kontakt und vereinbart alles Weitere untereinander. Das Unternehmen verdient dabei kein Geld.

Auch den Herstellungsprozess versucht man möglichst zirkulär zu gestalten. So werden die Waschmaschinen für die Reinigung der Lkw-Planen durch Regenwasser gespeist, und sie verfügen über einen Wärmetauscher. Unbrauchbare Planen-Elemente werden als Heizmittel verwertet. Aus Resten und Ausschuss werden zum Beispiel Gummimatten für Pferdeställe erzeugt.

Made in Asia

Alles zu gut, um wahr zu sein? Natürlich gibt’s auch bei Freitag Optimierungsbedarf. "Durch den Ukrainekrieg ist die Neue Seidenstraße gesperrt. Um etwa Produktlancierungstermine in Asien einhalten zu können, müssen wir auch auf Luftfracht transportieren. Normalerweise setzen wir bei internationalen Transporten aber bevorzugt auf Bahn, Lkw oder den Seeweg", sagt Jean Gerome Carrey. Er ist Teil des Führungsteams und für Themen rund um die Wertschöpfungskette verantwortlich. Den Krieg zu beenden übersteigt wohl den Einflussbereich des Unternehmens Freitag – im Gegensatz zu Produktlancierungen aus dem eigenen Haus.

So wirkt der neueste Wurf etwas befremdlich. Anfang 2024 kommt ein Rucksack auf den Markt, der in Asien produziert wird und aus Polyamid 6, einer Form von Nylon, besteht. Das Polymer hat eine schlechte CO2-Bilanz, und beim Waschen setzt sich Mikroplastik ab. Warum setzt Freitag dann auf dieses Material? Die Idee ist, ein Produkt aus einem einzigen Material zu produzieren, damit es am Ende des Lebenszyklus vollends recycelt werden kann. Nur bei kleinen Bestandteilen wie Klebepunkten oder Reißverschlussschiebern mussten Glasfasern beigemischt werden. Ein mechanisches Recycling ist trotzdem möglich, erklärt Anna Kerschbaumer, die ebenfalls Mitglied des Führungsteams ist. Aber auch wenn alte Modelle geschreddert, eingeschmolzen und zu neuen Produkten verarbeitet werden, muss "frisches" Nylon dazu gemengt werden. Da entsprechen andere Artikel im Freitag-Sortiment, etwa aus recycelten PET-Flaschen, Airbags, Skischuhen oder eben Lkw-Planen, viel besser der Unternehmensphilosophie, "gebrauchten Materialien ein neues Leben zu geben, sie in einem anderen Zusammenhang wiederzuverwenden, sie also zu rekontextualisieren".

Und wie ist es um die Freitag-Brüder und ihre persönliche Lebensweise bestellt? Hat Markus Freitag irgendwelche Laster? Der 52-Jährige lacht. Nach kurzem Überlegen erzählt er, dass er gerne einmal in Japan snowboarden gehen möchte. Aber nur zum Vergnügen würde er diese Flugreise nicht antreten. "Ich muss also auf die passende Geschäftsreise warten", sagt Freitag mit einem Augenzwinkern. (RONDO, Michael Steingruber, 10.10.2023)

Die Reise nach Zürich wurde unterstützt von Freitag.