Ein Gesteinsbrocken mit geschätzt 4.000 Jahre alten Markierungen, der von der Wissenschaft lange Zeit weitgehend unbeachtet geblieben war, hat sich für Archäologinnen und Archäologen nun als wertvolle "Schatzkarte" entpuppt. Der Stein könnte Hinweise auf bisher unbekannte historische Stätten im Nordwesten Frankreichs liefern.

Bis etwa 1900 war die Steinplatte Teil des Grabhügels von Saint-Bélec im französischen Leuhan in der Bretagne gewesen. Sie stammt vermutlich aus der frühen Bronzezeit zwischen 2150 und 1600 v. Chr. 1924 brachte man sie ins Museum, wo man auf sie vergessen hatte, ehe man sich vor einigen Jahren wieder an sie erinnerte. 2021 schließlich erkannten Forschende in ihr die möglicherweise älteste Landkarte Europas. Seitdem arbeiten Fachleute daran, die Gravierungen zu entschlüsseln.

Saint-Bélec, Stein, Bronzezeit, Schatzkarte
Der Stein von Saint-Bélec gibt nach Ansicht der Archäologen eine 30 mal 21 Kilometer große Region in der Bretagne wieder. Die verschiedenen Markierungen könnten bisher unbekannte historische Fundorte darstellen, glauben die Forschenden.
Foto: Denis Gliksman, Inrap

Am Beginn der Schatzsuche

"Eigentlich ist dies nicht unsere Vorgehensweise, aber diese Karte könnte sich als nützlich erweisen, um archäologische Fundstätten zu finden", sagte Yvan Pailler von der Universität der Westbretagne, der maßgeblich an diesem Projekt beteiligt ist. Historische Stätten werden normalerweise mithilfe von Bodenradar, Luftaufnahmen oder durch Zufall entdeckt, etwa wenn die Fundamente für neue Gebäude ausgehoben werden.

"Für uns ist dieser Stein jedoch ein Hinweis auf solche Orten", sagte Pailler. Allerdings steht sein Team gerade erst am Anfang seiner Schatzsuche. Die Markierungen auf dem Stein bilden ein Gebiet von etwa 30 mal 21 Kilometern ab. Um diese über 600 Quadratkilometer abzusuchen, zu vermessen und die Details der Platte mit den natürlichen Gegebenheiten abzugleichen, sind mindestens 15 Jahre nötig, erklärt Clement Nicolas vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS).

Flüsse und Berge

Nicolas und Pailler waren Teil jenes Teams, das den Saint-Bélec-Stein 2014 wiederentdeckt und sich seither intensiv mit den Gravierungen beschäftigt hat. "Es gab einige Symbole, die auf Anhieb einen Sinn ergaben", meinte Pailler. Insgesamt konnten die Forschenden in den grob herausgearbeiteten Unebenheiten und Linien der Platte einige Flüsse und Berge rund um die die Gemeinde Roudouallec erkennen.

Dafür hatten die Forscher die Platte gescannt und mit modernen Landkarten verglichen. Bei 80 Prozent der Merkmale gelang es den Wissenschaftern tatsächlich, Übereinstimmung festzustellen. So stellte beispielsweise eine Vertiefung wahrscheinlich eine Senke in der Landschaft dar, bei der es sich nach Ansicht der Experten um das Tal des Flusses Odet handelt. Einige der Linien wiederum könnten Seitenarme dieses Flusses wiedergeben. Auch das Ursprungsgebiet der Flüsse Isole und Inam glaubt das Team erkennen zu können. "Allerdings müssen wir noch die geometrischen Symbole und die dazugehörige Legende entschlüsseln", sagte Nicolas.

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Was die zahlreichen Löcher und Einkerbungen zu bedeuten haben, darüber sind sich die Wissenschafter noch nicht ganz im Klaren.
Foto: Denis Gliksman, Inrap

Grabhügel und Behausungen

Der Archäologe meint damit eine große Anzahl von Vertiefungen, Löchern, Kreisen und Ovalen, die nach Ansicht der Fachleute Grabhügel und früheren Behausungen darstellen könnten. Könnte man diese Markierungen konkreten Orten zuordnen, würde das wohl zur Entdeckung einer regelrechten Flut bisher unbekannter historischer Stätten führen, sind die Forschenden überzeugt.

Doch vorerst waren die Archäologinnen und Archäologen damit beschäftigt, an jener Stelle Ausgrabungen durchzuführen, an der die Platte ursprünglich entdeckt worden war. Laut Pailler handelt es sich um eine der größten bronzezeitlichen Grabstätten in der Bretagne. "Wir versuchen jetzt erst einmal, den Fund besser einzuordnen, um die Platte datieren zu können", so Pailler.

Weitere Plattenfragmente

Die Untersuchungen hatten zuletzt bereits wichtige Funde zutage gefördert. So gelang es dem Team, einige bisher unbekannte Fragmente der Platte freizulegen. Die Stücke waren offenbar abgebrochen und in die Wand des Grabs eingearbeitet worden, was Nicolas als Hinweis auf die wechselnde Machtdynamik innerhalb der bronzezeitlichen Siedlung von Saint-Bélec wertet.

Aus dem, was man bisher aus der Platte herauslesen konnte, schließt das Team, dass die darauf abgebildete Karte eine Art Königreich oder Fürstentum darstellt, das möglicherweise durch Aufstände und Rebellionen auseinanderbrach. Nach diesen Ereignissen hatte die Karte ihre ursprüngliche Funktion offenbar eingebüßt. "Die Gravierungen der Platte ergaben also keinen Sinn mehr, sie wurde zerteilt und als Baumaterial weiterverwendet", glaubt Nicolas. (Thomas Bergmayr, 19.10.2023)