Mont-Saint-Michel
Der Mont-Saint-Michel bei Sonnenaufgang. Bei Flut ist er wieder ganz von Wasser umgeben.
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Dem Phänomen des Mont-Saint-Michel nähert man sich am besten über seinen Eindruck auf Menschen, der sich nicht selten in Gefühlen traumgleicher Unwirklichkeit manifestiert. Wer sich zu einem Besuch des Mont-Saint-Michel entschließt, findet sich bald in einer kleinen mittelalterlichen Stadt mit engen Gassen wieder, die aus wunderschön erhaltenen Steinhäusern besteht. Restaurants und Souvenirläden reihen sich aneinander.

Das vertraute Ambiente verlangt danach, sich die Lage dieser Postkartenstadt zu vergegenwärtigen: Sie befindet sich, eingefasst von dicken Stadtmauern, in einer schier endlosen Ebene aus Sand, einem Watt zwischen der Normandie und der Bretagne im Nordwesten Frankreichs. Die Häuser schmiegen sich an den Hang eines Felsens der in dem sonst fast perfekt flachen Gelände die höchste Erhebung darstellt und bei der Anreise schon aus Kilometern Entfernung als dunkle, gezackte Pyramide erkennbar ist. Über einen vom österreichischen Architekten Dietmar Feichtinger designten Steg werden täglich Menschen mit auf die Architektur abgestimmten Shuttlebussen (Holz-Look!) zum Eingangstor gebracht, das an das Portal einer orientalischen Wüstenstadt gemahnt.

Der Blick zwischen Dächern hinab auf die Sandebene des Watts.
Direkt hinter der Stadtmauer liegt eine verwinkelte mittelalterliche Stadt.
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Dahinter dann die Stadt, die auch irgendwo auf dem mitteleuropäischen Festland liegen könnte, eine nach wie vor bewohnte Gemeinde, inklusive Kirche, ganz der Aufgabe verschrieben, die Millionen hindurchzuschleusen, die weiter den Berg hinaufziehen.

Dort ziehen steile Mauern die Blicke auf sich, die über der Stadt aufragen. Absurd groß erscheint die Anlage, die sich dort auftürmt, und deren Beiwerk die idyllische Stadt ist. Reale Vergleiche fehlen, sie finden sich in der Populärkultur, etwa in den kunstvoll überbetonten Ausmaßen des "Red Keep", der in der Kultserie "Game of Thrones" über der Königsstadt thront.

Mont-Saint-Michel
Die Treppe zur Kirche erlaubt einen spektakulären Blick auf den Chor mit seinem Strebewerk, der anders als bei den meisten gotischen Kirchen nicht aus Sandstein, sondern aus Granit besteht.
APA/AFP/DAMIEN MEYER

Treppe zum Gipfel

Der Eindruck ist kein Zufall, sondern gewollt. Besucherinnen und Besucher wandeln beim Gang auf den Berg auf den Spuren von Pilgerscharen, die das Kloster aufsuchten. Sie werden, heute wie damals, durch ein weiteres befestigtes Tor geführt, wo eine monumentale Treppe auf sie wartet. Sie führt direkt zur Klosterkirche, die auf dem Gipfel des Felsens liegt. Die Treppe endet auf dem Vorplatz der Kirche, der über dem Watt zu schweben scheint. Von dort sind geführte Gruppen in der Ferne zu sehen, die über die sandige Ebene wandern, mit ständigem Blick auf die Uhr, um nicht von der Flut erwischt zu werden, die immer wieder Todesopfer fordert.

Die Kirche selbst ist wieder vergleichsweise vertrautes Terrain, das Bewusstsein um die exponierte Lage verblasst abermals und wird zu einer fernen Erinnerung. Es handelt sich um eine Mischung aus romanischen und gotischen Trakten, wobei der gotische Chor aus einer späten Phase dieser Architekturrichtung stammt, mit geschwungenen "Flamboyant"-Elementen, die wie die namensgebenden Flammen das starre, vertikal orientierte Korsett der gotischen Form sprengen. Der Chor, der einen eingestürzten romanischen Vorgängerbau ersetzte, gilt als einer der Höhepunkte dieser Richtung. Wem er vertraut erscheint, der irrt nicht: Er findet sich in der Populärkultur unzählige Male kopiert, etwa in Videospielen wie dem von einem Pariser Studio entwickelten "A Plague Tale – Innocence", der ein detailgetreues Abbild verwendet.

Ein Kirchenschiff mit großen Fenstern.
Der spätgotische Chor der Klosterkirche.
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Verborgene Ebenen

Neben dieser eindrucksvollen Besucherebene befand sich der eigentliche Lebensraum der Benediktinermönche, die hier über Jahrhunderte wohnten. Diese Ebene ist von den Pilgerräumen getrennt, was auf dem engen Raum, den der Berggipfel hergab, Kreativität in der architektonischen Gestaltung verlangte. Mont-Saint-Michel ist von unzähligen Geheimgängen durchzogen, die es den Mönchen erlaubten, sich ungesehen von lästigen Besuchern und deren Wünschen und Fürbitten frei im Kloster bewegen zu können. Es ist ein in Stein geformtes Sinnbild des Widerspruchs mönchischer Lebensweise: Rückzug von der Welt, um sich ganz auf Gott zu konzentrieren, was aber das Interesse der Menschen in eben dieser Außenwelt weckt, die für sich und ihre Liebsten ein Stück von dieser Göttlichkeit abhaben wollen.

Über die Leichtigkeit der Bauweise, den Speisesaal und den säulengestützten Kreuzgang als Wunder der Architektur, ist viel geschrieben worden. Der Trakt, der Ersteren trägt, heißt tatsächlich "La merveille", "das Wunder". Seine drei Stockwerke ragen besonders kühn auf und verlangten einen geschickten Leichtbau, um nicht wie ein benachbarter romanischer Vorgängertrakt zu enden, der einstürzte. Dessen geplante Erneuerung wurde nie in Angriff genommen, Konflikte zwischen Frankreich und England verlangten es, alle Energie auf die Errichtung der Festungsmauer zu fokussieren. Noch heute laufen die damaligen Geheimgänge als dunkle Portale ins Leere.

Die Bedeutung des Mont-Saint-Michel lässt sich freilich nicht auf den Eindruck reduzieren. Das Kloster war im Mittelalter eines der Machtzentren Frankreichs, der Abt konnte Recht sprechen wie ein König. Zudem befand sich dort eines der wichtigsten intellektuellen Zentren seiner Zeit, wo Bücher entstanden, die heute in Avranches aufbewahrt werden. Das "Skriptorium", der Schreibraum, hatte dazu extra große kreisrunde Fenster.

Die Gründungsgeschichte lässt die Normalität eines mittelalterlichen Katholizismus spüren. Die Kirche ist Michael geweiht, der nicht nur Erzengel war, sondern auch als Heiliger verehrt wurde. Dem später selbst heiliggesprochenen Bischof Autbert erschien im Jahr 708 drei Mal Michael im Traum und verlangte den Bau eines Klosters. Das erschwerte die Suche nach der obligaten Reliquie, die normalerweise in Form eines Knochens vorliegt. Um die Gründung zu ermöglichen, brach vor etwas mehr als 1.300 Jahren eine Delegation aus Frankreich zum wichtigsten Michaels-Heiligtum der damaligen Zeit, dem Monte Gargano in Süditalien, auf. Den Gesandten gelang das Unwahrscheinliche: Sie ergatterten zwei Reliquien des Erzengels, darunter ein Stück seines Gewandes.

Ungewöhnlich konkret wird der Heilige Michael durch sein Einwirken auf Autbert selbst. Sein Schädel weist ein Loch auf, das auf Michaels Einfluss zurückgeführt wurde und nach heutigem Wissen von einer Epidermoidzyste stammt. Er wird heute in Avranches aufbewahrt.

Zwischen Kitsch und Kult

Seine internationale Bekanntheit verdankt der Ort allerdings nicht seiner Geschichte, sondern seiner imposanten Erscheinungsform, die bereits früh kopiert wurde. Bei Cornwall liegt St. Michael's Mount, ein Michaelskloster nach dem berühmten französischen Vorbild, das an das Original allerdings nicht heranreicht. Spektakulärer ist da schon Sacra di San Michele im italienischen Piemont, das einen Berggipfel mit steilen Wänden ziert.

Der Klosterberg bei Nacht.
Eine Lichtshow zum Tausend-Jahr-Jubiläum des Klosters.
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Die Atmosphäre dieses Orts, die noch heute in Form der popkulturellen Nachbildungen so wertgeschätzt wird, war von jeher ein wichtiger Faktor für die Pilgerstätte. Das Nachlassen dieser Faszination wäre dem Mont-Saint-Michel beinah zum Verhängnis geworden. Die Reformation bewirkte einen Rückgang der Pilgerströme, die französische Revolution tat ihr Übriges dazu, dass die Mönche den Berg verließen. 1791 wurde aus dem Mont-Saint-Michel ein Gefängnis, die Klosterkirche erhielt mehrere Zwischendecken, der Kreuzgang wurde aufgestockt. Die Haftbedingungen waren gefürchtet, der Sehnsuchtsort wurde für viele Insassen zur Hölle auf Erden. Für die Erhaltung des Gemäuers erwies sich die Zweckentfremdung aber als Glücksfall. Sie bewahrte es vor dem Verfall, bevor eine bemerkenswerte Entwicklung die Anlage zu neuer Blüte führte.

Der Mont-Saint-Michel wurde zum Vorzeigemodell der neu entdeckten Idee des Denkmalschutzes. Nicht zuletzt dem Autor Victor Hugo, der als Besucher des Gefängnisses eindrücklich die drastischen Verhältnisse dort schilderte, ist es zu verdanken, dass Napoleon III. das Gefängnis 1863 auflöste und der Mont-Saint-Michel 1873 zu einem "Monument historique" erklärt wurde.

Das Kloster wurde daraufhin unter Leitung des Architekten Eugène Viollet-le-Duc restauriert. Die Maßnahmen beinhalteten neben der Rückversetzung in den Ursprungszustand auch einige optische Anpassungen. Der Kirchturm erhielt seine markante, gotische Spitze mit der goldenen Engelsstatue, wodurch die Silhouette aus der Ferne gesehen zu einem fast perfekten Dreieck wird. Hier stand nicht die kulturgeschichtliche Bedeutung der Anlage im Vordergrund, sondern wieder der pure Eindruck, dem durch Veränderung eines Jahrhunderte überdauernden Turms auf die Sprünge geholfen werden sollte. Wenn der Mont-Saint-Michel heute zu naivem Staunen verleitet, liegt es auch an dieser Maßnahme.

Standbild in der Ewigkeit

Der Mont-Saint-Michel ist kein in ursprünglicher Form erhaltenes mittelalterliches Kloster, sondern stellt eine Momentaufnahme einer Entwicklung dar, die sich über mehr als ein Jahrtausend hinzog und deren Bestandteil auch Renovierungsmaßnahmen eines heute kaum noch nachvollziehbaren Denkmalschutzbegriffs sind. Auch sie werden als Teil der Geschichte erhalten.

Manche Maßnahmen mussten allerdings rückgängig gemacht werden: Die Trasse mit der Straße, die im 19. Jahrhundert zu der bis dahin vom Festland getrennten Insel errichtet wurde, konnte nicht bleiben. Sie verhinderte das Abfließen von Sediment des hier mündenden Flusses und hatte das flache Meer völlig versanden lassen. Um den ursprünglichen Charakter wiederherzustellen, wurde die Straße neu errichtet, die heute über weite Strecken über Brücken verläuft. Der Fluss erhielt eine Schleuse, um mit regelmäßigen künstlichen Fluten Sediment auszuwaschen. Was früher ein natürliches Phänomen war, muss heute durch eine Reihe von Maßnahmen mit Kosten von mehreren Hundert Millionen Euro künstlich reproduziert werden. Erste Erfolge dieser Maßnahmen sind bereits sichtbar.

Slackline zum Mont-Saint-Michel
Der französische Slackliner Nathan Paulin feierte das Jubiläum mit einer Slackline in Weltrekordlänge, die zum Turm des Klosters verlief.
APA/AFP/DAMIEN MEYER

Dieses Jahr jährt sich die Grundsteinlegung der heutigen Abteikirche zum tausendsten Mal. Das Datum ist bis zu einem gewissen Grad willkürlich gewählt, die Gründung des Klosters erfolgte früher, eine auf die damalige Zeit zurückgehende Kirche wurde seinerzeit zugemauert und geriet in Vergessenheit. Heute ist Notre-Dame-sous-Terre wieder für Führungen zugänglich.

Für Frankreich ist die Stätte, die sich mehrmals in seiner Geschichte den Angriffen der verfeindeten Engländer spektakulär widersetzte, von hoher nationaler Bedeutung, das runde Jubiläum des Nationalheiligtums wurde dementsprechend gefeiert. Ihre ungebrochene Popularität gilt auch als Beispiel für das in Frankreich besonders drängende Problem des Übertourismus, an dessen Bewältigung gearbeitet wird.

Der Mont-Saint-Michel wird auch dieses Phänomen überdauern. Es ist schwer vorstellbar, wie dieser allen Einordnungen spottende Ort nicht in fünf- oder zehntausend Jahren die nächsten runden Jubiläen feiern soll. Das Problem der Versandung wird bis dahin durch den steigenden Meeresspiegel keine Relevanz mehr haben. (Reinhard Kleindl, 29.10.2023)