Kemal Atatürk
Am Beginn der Republik Türkei stand ein mächtiger Mann: Kemal Atatürk, der den Übergang vom Osmanischen Reich zu einem westlich geprägten Staat einleitete. Die Widerstände dagegen waren beträchtlich, sie sind es zum Teil bis heute.
REUTERS

Als Can Dündar in Begleitung seiner Frau das Gerichtsgebäude verlässt, tritt ein Mann mit gezückter Pistole auf ihn zu. Bevor er abdrücken kann, stürzt sich Dündars Frau auf den Attentäter, überwältigt ihn und rettet Can das Leben.

Keine Szene aus einem TV-Krimi, sondern einer der Versuche, den von Erdoğan als Terrorist Diffamierten zum Schweigen zu bringen. Sogar in Berlin, wo der Journalist mittlerweile im Exil lebt, ist er nicht sicher und muss sich zeitweise von Bodyguards begleiten lassen, wenn er außer Haus geht, kann es nicht wagen, irgendein Taxi zu nehmen, das möglicherweise ein treuer Erdoğan-Wähler lenkt. "Verräter" wird er von diesen geschimpft.

Waffenlieferungen

Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, hat 2014 mit seinem Rechercheteam herausgefunden, dass der türkische Geheimdienst illegal Waffen an syrische Jihadisten lieferte. Unter Medikamentenschachteln versteckt, waren in einem Lkw an der Grenze Granaten und Munition gefunden worden.

Erdoğan schien angezählt. Dann stellte der Präsident das Ganze als eine gegen ihn gerichtete Intrige dar. Dündar wurde wegen Staatsverrats verhaftet und verbrachte zwölf Wochen in Silivri, dem Gefängnis, in dem auch der Welt-Korrespondent Deniz Yücel, wegen einer nicht genehmen Frage auf einer Pressekonferenz, festgesetzt wurde.

Geiselnahme am Flughafen

Yücel kam aufgrund von Kampagnen in Deutschland frei. Ende Februar wurde auch Dündar entlassen. Das Gericht, noch nicht Erdoğan-verseucht, erkannte in seinem Tun journalistische Arbeit und nicht Terror. Der Präsident tobte und verkündete, dass er dieses Urteil nicht anerkenne.

2017 kehrte Dündar nach einem Aufenthalt in Barcelona nicht nach Istanbul zurück, da sich sein Name auf einer Liste von zur Verhaftung ausgeschriebenen "Terroristen" befand. Er musste seine Redaktion, seine Freunde, sein Haus, seine Frau zurücklassen. Als Dilek Dündar ihm nachreisen wollte, nahm man ihr am Flughafen den Pass ab, um sie als Geisel zurückzubehalten.

Auf der Todesliste

Mittlerweile arbeitet der Journalist von Berlin aus, eine Symbolfigur des politischen und künstlerischen türkischen Exils. Er publiziert, sucht nach Verbündeten, um Erdoğans Vernichtungszug gegen die Demokratie zu stoppen, immer wieder desillusioniert, sobald die deutsche Regierung dem Staatschef Zugeständnisse macht. Erdoğan soll dafür garantieren, dass Millionen von Geflüchteten, die sich in der Türkei aufhalten, außerhalb der EU bleiben. Dafür darf er sein Land in ein gigantisches Freiluftgefängnis verwandeln, wie Dündar schreibt.

Keines der von ihm verfassten Bücher ist in der Türkei noch erhältlich. 900.000 Schulbücher, in denen er erwähnt wird, wurden eingestampft. Wegen Staatsverrats ist er inzwischen zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Zuweilen erscheint sein Name auf Todeslisten. Auf seinen Kopf ist ein Preis von 25.000 Euro ausgesetzt. Der Mann, der Dündar erschießen sollte, gehörte einer der Regierung nahestehenden Mafiabande an und kam bald frei.

Im Exil leistet Dündar Bewusstseinsarbeit, veröffentlichte unter anderem einen Comic über Erdoğans Aufstieg, ließ seine eigene Gefängniszelle in Plexiglas nachbauen und schickte sie auf Tour. Sein eigenes Leben wird zum Material von Bühnenaufführungen, er arbeitet für das Onlineradio Özgürüz (Wir sind frei), finanziert von Reporter ohne Grenzen, erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen.

Verwehrte Rückkehr

Was er eigentlich möchte, erreicht er jedoch nicht, nämlich in eine demokratische Türkei zurückzukehren, in der Menschen sich frei äußern und ohne Zensur schreiben können, ohne Angst zu haben, wegen Verletzung "nationaler Gefühle" ins Gefängnis geworfen oder zur Zielscheibe von Attentaten zu werden.

So beginnt auch Dündars neues Buch mit einer Schilderung der Wahlnacht in Berlin 2023, als die Hoffnung auf Änderung so realistisch schien wie lange nicht mehr. Dann die Enttäuschung, dass die Sehnsucht nach einem starken Führer den Wunsch nach Demokratie übertrumpfte. Auch zu Beginn der nun 100-jährigen Nation stand ein mächtiger Mann. Kemal Atatürk, über dessen Aufstieg Dündar einen Dokumentarfilm gedreht hat, leitete den Übergang vom Osmanischen Reich zu einem westlich geprägten Staat ein.

Die von oben herab verordneten Änderungen, aber auch die Widerstände dagegen, waren enorm: Die Abschaffung der arabischen Schrift, des Schleierzwangs, der Polygamie, Verbote von Kaftan, Turban und Fez sollten den Anschluss an ein modernes Europa erleichtern. Eine Alphabetisierungskampagne und Koedukation die allgemeine Bildung vorantreiben. Nationale Identität sollte ab nun vor der religiösen stehen. Die Hagia Sophia wurde vom Gebetsort zum Museum. Für eine umfassende Universitätsreform lud Atatürk aus Deutschland und Österreich vertriebene jüdische Wissenschafter und Experten in die Türkei, mehr als 500 folgten seinem Ruf. Die Wiener Architekten Clemens Holzmeister und Margarethe Schütte-Lihotzky befanden sich darunter.

Dündar
Was Dündar möchte, nämlich in eine demokratische Türkei zurückzukehren, in der Menschen sich frei äußern können, erreicht er nicht.
IVO MAYR

Angst vor Spaltung

Als Atatürk 1938 stirbt, hinterlässt er ein Land, als dessen Grundkonflikte Dündar vor allem die paranoide Angst vor einer Spaltung, sowie permanenten Religionsstreit ausmacht. Ab nun wird die Türkei ständig zwischen Moschee und Kaserne hin- und hergerissen sein. Dazu kommt, dass der massive Zuzug aus Anatolien konservative Kräfte nach Istanbul trägt. Die religiöse, nationalistische Landbevölkerung dominiert die Bosporus-Metropole. Eine liberal denkende bürgerliche Mittelschicht entsteht so nicht. Gegen griechische, armenische und jüdische Minderheiten und ihren Besitz richteten sich 1955 nationaltürkische Pogrome.

Nach ihrer Vertreibung aus Portugal und Spanien im 16. Jahrhundert waren viele sephardische Familien nach Istanbul geflohen und hatten dort ihre Traditionen beibehalten. Die Netflix-Serie The Club erzählt von der zunehmenden nationalistischen Aggression in den 1950er- Jahren am Beispiel eines Istanbuler Nachtclubs. Mehr und mehr sind Minderheiten gezwungen, ihre Herkunft zu verstecken, werden erpressbar. Wer kann, verlässt die Türkei.

Der junge Erdoğan ist ab den späten 1960er-Jahren in der islamistischen Studentenbewegung aktiv. Mit Freunden führt er ein Theaterstück auf, das sich gegen Freimaurer, Kommunisten und Juden, die Hauptfeinde der islamistischen Bewegung, wendet. Als wirtschaftliche Reformen, die das Land dringend nötig hat, nicht in Gang kommen, leitet das Militär 1980 einen weiteren Putsch ein, so Dündars Vermutung.

Unfassbare Zahlen

Die Folgen sind weitreichend, die Anzahl von Verhafteten (650.000), Angeklagten (230.000) und als verdächtig Registrierten (1.683.000) unfassbar. Kinofilme, Bücher, Vereine werden verboten, Lehrer und Richter entlassen, für 7000 Personen wird die Todesstrafe gefordert. Das Militär zeigt überall Präsenz. Es gibt Ausgangssperren und stundenlange Kontrollen, sobald man das Kurdengebiet im Osten ansteuert.

Eine bewaffnete kurdische Miliz unter der Führung von Abdullah Öcalan beginnt sich zu formieren. Als weitere bestimmende Mächte macht Dündar eine islamistisch-türkische Bewegung sowie den sogenannten "tiefen Staat" aus, eine Vereinigung von Nationalisten, Armee und Geheimdienst. Der tiefe regiert den zivilen Staat und nicht umgekehrt.

Ein Kräftespiel, das bis heute die Türkei bestimmt, ist eröffnet: Ideologien, schwankend zwischen Religion, Nationalismus, Demokratie und Militärherrschaft, welche Zerstörung mit sich bringen; Staatschefs, die wiederaufbauen, dann der Korruption verfallen, schließlich bekämpft, verraten und abgelöst werden; Machthaber, die ins Gefängnis geworfen, verurteilt, getötet werden. Fragwürdige Herzinfarkte, Autounfälle, Flugzeugabstürze. All das, während das Land versucht, wirtschaftlich und außenpolitisch zu reüssieren. Die CIA mischt mit. Dazu kommt das Kurdenproblem, dessen Lösung manchmal näher scheint, dann wieder verhärtete Fronten zeigt.

Inszenierter Vermittler

1993 wurde zum schlimmsten Jahr der türkischen Geschichte, konstatiert Dündar. Die Jagd auf Investigativjournalisten begann. Alevitische Künstler eines Treffens in Sývas wurden von Islamisten attackiert. Sie flohen in ein Hotel, die Sicherheitskräfte unternahmen nichts, der Mob legte Feuer, und 33 alevitische Schriftsteller, Dichter und Musiker erstickten im Rauch. Viele Täter konnten fliehen und sich vor allem in Deutschland niederlassen. Was die kurdische Frage betrifft, wurde 1993 zu dem Jahr, in dem jene beseitigt wurden, die zu ihrer Lösung auf demokratische Prozesse statt auf Militäreinsätze pochten.

Dündar beschreibt Erdoğan als geschickten Strategen, der seine Fahne nach dem Wind zu drehen versteht. Als er merkt, dass radikale Rhetorik ihn nicht voranbringt, gibt er sich liberal und als Vertreter eines gemäßigten Islam. Nach 9/11 wird sein Aufstieg international befördert, als die USA einen regionalen Verbündeten brauchen. Erdoğan inszeniert sich als Vermittler zwischen Westen, arabischen Ländern und Nahem Osten.

Buchcover
Can Dündar, "Die rissige Brücke über den Bosporus.Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen". Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.€ 23,70 / 240 Seiten. Galiani, Berlin 2023
Galiani Berlin Verlag

Ausgehebelte Demokratie

Einmal an der Macht, beginnt er, die Demokratie auszuhebeln. Schritt für Schritt nahm Erdoğan die Reformen Atatürks zurück, um ein neues, auf dem Islam basierendes Reich zu schaffen. Nachdem er schließlich den Putsch von 2016 überstanden hatte, wurde er zum Alleinherrscher über Legislative, Exekutive, Justiz, Medien, Partei, Armee, Polizei, Kapital, Hochschulwesen, Kommunalverwaltungen, Diplomatie und Zivilgesellschaft, so Dündar.

Der Journalist konzentriert sich in seinem Buch auf Fakten, versucht, nicht vorschnell zu werten oder Partei zu ergreifen. Er wägt ab, analysiert und entwirft das problematische Bild eines Landes, welches die meisten bloß von touristischen Reisen kennen. Da die Türkei strategisch derart wichtig ist, sieht der Westen über Menschenrechtsverletzungen hinweg.

Pattstellung

Solange Millionen von Geflüchteten dort gehalten werden, damit sie nicht das Sozialsystem der europäischen Länder crashen, was einen weiteren Aufschwung rechter nationaler Parteien zur Folge hätte, fällt es keinem ein, den Autokraten zu sanktionieren. So ist die Situation vor allem eine Pattstellung zulasten aller türkischen Menschen, die sich Redefreiheit und Gleichberechtigung erhoffen.

Was aber können wir tun? Dündar fordert Solidarität, schlägt Städtepartnerschaften und gemeinsame Forschungsprojekte vor, einander Beistand leistende Organisationen, hofft auf kulturelle Strukturen, die sich der mit Verbot belegten Sprachen und Werke türkischer Künstlerinnen annehmen, um ein Gegengewicht zum restriktiven Regime zu schaffen.

Ungeklärter Tod

Währenddessen wächst die türkische Diaspora. Deniz Yücel, Sprecher des kürzlich gegründeten PEN Berlin, hilft verfolgten Autorinnen aus der Türkei, in Deutschland Unterstützung zu finden. Die Community trifft sich jährlich im Jänner bei einem von Dündar im Gorki-Theater veranstalteten Abend, um des 2007 ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink zu gedenken.

Dündar steht auf der Bühne, feierlich in Schwarz mit silberweißem Haar, spricht vom Leben und bis heute ungeklärten Tod seines Freundes, armenisch-türkische Bands performen, danach wird getanzt, gegessen, gefeiert. Es gibt Raki. Mittlerweile ist es auch Dündars Frau gelungen, nach Berlin zu gelangen. Sein Aktivismus wird erst enden, wenn die Türkei zur Demokratie zurückfindet. Dann kann Dündar den lange geplanten Roman über die Jahre des spanischen Dichters Cervantes als weißer Sklave in Algerien schreiben. Wir bleiben gespannt. (Sabine Scholl, 28.10.2023)