Armband mit Beschriftung
In Konzentrationslagern wurden während des NS-Regimes auch von Medizinern brutale Gräueltaten verübt. Im Bild ist ein Armband zu sehen, das von einem Zwangsarbeiter im Gesundheitsbereich im KZ Buchenwald getragen wurde.
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In Europa fiel das Veröffentlichungsdatum auf den 9. November, das Datum der radikalen Pogrome gegen Jüdinnen und Juden vor 85 Jahren, bei denen Zehntausende von ihnen in Deutschland und Österreich inhaftiert und misshandelt wurden, viele auch ermordet. Ein neuer, umfassender Sammelbericht im weltweit einflussreichsten Medizin-Fachjournal "The Lancet" fasst die medizinischen Verbrechen des Nationalsozialismus zusammen und bezieht sich auf knapp 900 Publikationen. Beteiligt waren 20 Wissenschafterinnen und Wissenschafter, darunter Herwig Czech von der Med-Uni Wien, der dort kürzlich als Professor für Geschichte der Medizin bestätigt wurde.

"Die medizinischen Gräueltaten der Nazis gehören zu den extremsten und am besten dokumentierten Beispielen für die Beteiligung von Ärzten an Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte", streicht die Kinderärztin und Medizinhistorikerin Sabine Hildebrandt von der Harvard Medical School in den USA hervor. Hildebrandt ist so wie Czech eine der Co-Vorsitzenden der Kommission. Deren Bericht machen deutlich, dass die Gräueltaten nicht nur von wenigen Ärztinnen und Ärzten begangen wurden, die man dazu zwang: Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden von zahlreichen Institutionen getragen.

Der Berufsstand hatte den höchsten Anteil an Mitgliedern in nationalsozialistischen Organisationen, betonte Czech im Rahmen der Berichtspräsentation im Wiener Josephinum am Donnerstagnachmittag, an der auch der Chefredakteur von "The Lancet" teilnahm. Medizinerinnen und Mediziner trugen dazu bei, die diskriminierenden und entmenschlichenden Ideologien und Richtlinien der Nazis – etwa im Rahmen der "Rassenhygiene" zum Schutz des "arischen Volkes" – zu entwickeln, umzusetzen und mitzutragen, zu denen auch die Vertreibung, Deportierung und Ermordung vieler jüdischer Kolleginnen und Kollegen gehörte. "Es ist oft erstaunlich, wie gering das Wissen über die medizinischen Verbrechen der Nazis in der medizinischen Fachwelt heute ist, vielleicht abgesehen von einer vagen Vorstellung von Josef Mengeles Experimenten in Auschwitz", sagte Czech. "Unser Bericht soll dies ändern."

KZ Stutthof medizinisches Untersuchungszimmer
Ein medizinischer Untersuchungsraum im Konzentrations- und Vernichtungslager Stutthof, östlich von Danzig; die Stätte wird heute als Museum genutzt. In Konzentrationslagern wurden an Gefangenen unmenschliche medizinische Versuche durchgeführt, aber auch in anderen Institutionen.
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Der deutsche Mediziner und Anthropologe Josef Mengele ist einer der bekanntesten Kriegsverbrecher aus der Zeit des NS-Regimes. Im Konzentrationslager Auschwitz nutzte er Inhaftierte, zu denen etwa Jüdinnen und Juden, Sinti und Sintizze sowie Roma und Romnja gehörten, für grausame Experimente. Besonderes Interesse hatte er an Zwillingen. Weniger bekannt ist seine Suche nach Proteinen im Blut zur Unterscheidung menschlicher "Rassen" – ein Kernpunkt der Nazi-Ideologie, der nach heutigem Wissen ohne biologische Grundlage dasteht, da sich Ethnien für die Rechtfertigung des Rassebegriffs genetisch zu wenig voneinander unterscheiden.

"Mengeles Forschungspraktiken waren geprägt von extremer Brutalität und völliger Missachtung der Menschlichkeit der Personen, die zur Teilnahme gezwungen wurden", heißt es im Bericht. Die schrecklichen Bedingungen im KZ Auschwitz seien skrupellos ausgenutzt worden und ermöglichten es "einem Menschen an der Macht, anderen Menschen unendliches Leid und Tod zuzufügen".

"Euthanasie"-Programme

Mengele gelang später die Flucht über die sogenannte Rattenlinie nach Südamerika. Andere wurden in einem Nachfolgeprozess der berühmten Nürnberger Prozesse angeklagt. Im Nürnberger Ärzteprozess 1946 bis 1947 wurden vom US-amerikanischen Militärgericht von den angeklagten 19 Ärzten, einer Ärztin, einem Juristen und zwei Verwaltern insgesamt sieben Personen freigesprochen, vier Personen mit einer Freiheitsstrafe von zehn bis 20 Jahren belegt, fünf lebenslänglich, sieben erhielten die Todesstrafe.

Unter den Hingerichteten war auch der Hauptangeklagte Karl Brandt, Generalleutnant der Waffen-SS, Reichskommissar für das Gesundheitswesen und Euthanasiebevollmächtigter. Er leitete also jene mit dem Euphemismus "Euthanasie" behafteten "Programme", im Zuge derer während des Zweiten Weltkriegs mindestens 230.000 Menschen mit Behinderungen ermordet wurden, Kinder wie Erwachsene. Mindestens 310.000 Personen, die die Zuständigen als "genetisch minderwertig" klassifizierten, wurden sterilisiert.

Schwarzweißfoto von Karl Brandt beim Nürnberger Ärzteprozess, Urteilsverkündung
Beim Nürnberger Ärzteprozess war Karl Brandt (stehend in der Mitte) der Hauptangeklagte von 23 Personen. Der SS-Gruppenführer und Euthanasiebevollmächtigte wurde vom US-amerikanischen Militärgericht zum Tode verurteilt.
gemeinfrei

Allein im sogenannten T4-Programm wurden innerhalb von drei Jahren 70.000 Menschen, die großteils aus psychiatrischen Einrichtungen kamen, durch Giftgas umgebracht. Hier erprobten die Nationalsozialisten Tötungsmethoden, die sie in NS-Vernichtungslagern im heutigen Polen in als Duschen getarnten Gaskammern anwandten. Zu den Opfern gehörten auch jene vom Wiener Spiegelgrund (heute Baumgartner Höhe): In der Anstalt "Am Steinhof" wurden mindestens 789 behinderte Kinder getötet. Leitend beteiligt war der Psychiater Heinrich Gross, der auch Mitglied der NSDAP war.

Fehlende Rechenschaft

Wie er knüpften viele nach Ende des Zweiten Weltkriegs an ihre Karriere an und verheimlichten mal mehr, mal weniger ihr Mitwirken an diesen medizinischen Gräueln. Von vielen ermordeten Patientinnen und Patienten fertigte Gross Gehirnpräparate an, an denen er selbst und andere noch lange später forschten. Auch der anatomische Atlas des Mediziners und glühenden Nationalsozialisten Eduard Pernkopf von der Universität Wien (zu der damals noch die medizinische Fakultät gehörte) gilt heute als ethisch problematisch. Für die Illustrationen, die in Fachkreisen als außergewöhnlich detailliert gelten, wurden die toten Körper von Opfern des NS-Regimes herangezogen, darunter etwa politisch Verfolgte.

Bilder aus dem Pernkopf-Atlas wurden teilweise als Vorlage für weitere Bebilderungen verwendet, ohne dass ihr Kontext deutlich gemacht wurde. Selbst das heutige Wissen über Unterkühlung und Folgen von Tabak- oder Alkoholkonsum gehe teils auf Forschung während des nationalsozialistischen Regimes zurück, ohne über die Umstände dieser Forschung aufzuklären. "Rechenschaft und Anerkennung der Verbrechen, die im Namen der Medizin in der Nazizeit und während des Holocausts begangen wurden, sind nach wie vor völlig unzureichend", sagt Shmuel Pinchas Reis von der Hebräischen Universität Jerusalem in Israel, ebenfalls ein Vorsitzender der Kommission.

Pernkopf-Atlas
Die detaillierten Aquarelle aus dem Pernkopf-Atlas hatten mitunter die Körper von Personen als Vorlage, die als politisch Verfolgte hingerichtet worden waren.
Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Med-Uni Wien

Während im Bericht zahlreiche Täter und Täterinnen sowie Opfer Erwähnung finden, macht er auch deutlich, dass man sich nicht nur auf zentrale bekannte Figuren fixieren dürfe. Bereits die politische Theoretikerin Hannah Arendt machte in ihrer "Banalität des Bösen" anlässlich des Prozesses gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann klar: Hinter den grausamen NS-Verbrechen steckten nicht nur bösartige Ungeheuer, sondern vor allem "normale Menschen", die die ihnen auferlegten Pflichten erfüllten und kollaborierten.

"Es ist zwar verlockend, die Täter als unbegreifliche Monster zu betrachten", sagt Medizinhistorikerin Hildebrandt. "Aber die von der Kommission vorgelegten Beweise zeigen, wie viele Angehörige der Gesundheitsberufe fähig waren, ethische Übertretungen und sogar Verbrechen an ihren Patientinnen und Patienten zu begehen, wenn bestimmte Bedingungen und Druck vorherrschen." Gerade im Gesundheitsbereich sei es wichtig, "eine starke moralische Handlungsfähigkeit zu entwickeln und zu bewahren", da man sich hier um besonders verletzliche Menschen kümmere.

Einsatz gegen Diskriminierung

Deshalb plädiert die Kommission insbesondere in dieser Berufsgruppe, aber auch generell für Aufklärung über die medizinischen Verbrechen während des Nationalsozialismus. Diese seien kein Einzelfall und Beleg dafür, dass Mitglieder der medizinischen Community an Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschenrechte – darunter Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Genozid – beteiligt waren. Doch die Schandtaten während des NS-Regimes zählen zu den extremsten, bestorganisierten und am besten dokumentierten Fällen.

Die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen dauerte lange und wurde erst in den 1980er-Jahren in der Medizin und der Geschichtswissenschaft ein Thema. Einer ihrer Pioniere war der aus Wien stammende Historiker Gerhard Baader, der 2020 starb. Doch noch heute sei Medizingeschichte und vor allem die medizinischen Gräueltaten kaum Teil der Lehrpläne für angehende Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Personal in Österreich, kritisiert Czech, wohingegen die Situation in Deutschland besser sei.

Der Report zeigt, wie dies verbessert werden könnte, auch anhand positiver Beispiele von Ärztinnen und Ärzten in Konzentrationslagern und Ghettos, die selbst unter schwierigen Bedingungen moralischen Mut zeigten. Die schuldigen Medizinerinnen und Mediziner im Dritten Reich hinterfragten die Grausamkeit ihrer Taten nicht und berücksichtigten nicht die Menschenrechte ihrer Opfer, betonte Hildebrandt bei der Vorstellung des Berichts. Stattdessen hätten sie wissenschaftliche Erkenntnis in tödlichem Ausmaß priorisiert. "Wir müssen uns gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung aussprechen, für eine personenzentrierte, menschenrechtsbasierte Medizin eintreten, die Schwachen schützen, den Ausgegrenzten dienen und die Menschlichkeit und Würde jedes einzelnen Patienten anerkennen."

Viele aktuelle Debatten zeigen, wie Medizin und Wissenschaft mit Politik, persönlichen Überzeugungen und sozioökonomischen Faktoren verknüpft sind – etwa bei "der Frage, wer bei einem katastrophalen Ereignis versorgt werden sollte, bei der Gesundheitsversorgung am Lebensende und bis hin zu neuen Entwicklungen in der Genetik", betont Medizinhistoriker Czech. Dieser Einflüsse und ihrer eigenen Verantwortung müssten sich Menschen in entsprechenden Berufsgruppen bewusst sein. "Vertreter der Gesundheitsberufe arbeiten heute in Systemen und Strukturen, die nicht allen Patienten gleichermaßen zugutekommen." Hier sei es nicht leicht, Entscheidungen zu treffen. Doch das Wissen um historische Extremfälle könne dabei helfen, mit ethischen Dilemmata in der Medizin umzugehen. (Julia Sica, 9.11.2023)