Wo früher ein Friseur untergebracht war...
Martin Frey
Vienna, City, Fotografie, Geschäfte mit Geschichte
... zog später eine Kaffeehandlung ein (1. Bezirk, Singerstraße).
Martin Frey

Philipp Graf und Martin Frey bitten zum morgendlichen Kaffee in die Konditorei Heiner in der Wiener Kärntner Straße. Die Wurzeln des Unternehmens reichen bis ins Jahr 1840 zurück. Das Café und seine Hinterstube im ersten Stock scheinen in einem längst vergangenen Jahrzehnt steckengeblieben zu sein. Es würde einen nicht wundern, wenn Peter Alexander hereinspazieren würde und sich eine Melange bestellt.

Geschäfte und Lokale, die aus der Zeit gefallen sind, haben es Graf und Frey angetan. Die zwei Herren trifft man eher nicht bei Starbucks.

Die für ihr Langzeitprojekt "Geschäfte mit Geschichte" auserkorenen Liegenschaften sind meist kleine, mitunter kuriose Juwelen der Stadt, wobei ihr Wert nicht in Karat, sondern in Charakter gemessen wird. Manche der Geschäfte haben sich verändert, andere wirken wie konserviert, nicht wenige sind verschwunden. Allerdings nicht völlig. Dank der zwei außergewöhnlichen Schatzsucher sind sie auf Papier gebannt und mittlerweile in mehreren Büchern untergekommen. Auch in kurzen filmischen Porträts leben sie weiter.

Über 500 Geschäfte wurden seit 2009 abgelichtet, bei jeweils gleichem Ausschnitt und gleicher Perspektive. Dieser Fokus liegt den beiden am Herzen. Außerdem sind Passantinnen oder Schaufensterbummler unerwünscht. Zumindest auf den Bildern.

Initialzündung war ein Projekt, bei welchem Graf und Frey ein Jahr lang den Wiener Südbahnhof fotografisch dokumentierten, bevor dieser dem Erdboden gleichgemacht wurde. "Damals nahmen wir eine Welle von zahlreichen Schließungen und daraus resultierenden Leerständen wahr", erinnert sich Graf.

Vienna, City, Fotografie, Geschäfte mit Geschichte
Einst ein Kindermodengeschäft ...
Philipp Graf
Vienna, City, Fotografie, Geschäfte mit Geschichte
... inzwischen ein Shop für Gummibärenfreaks (Rotenturmstraße, Innenstadt).
Philipp Graf

Betreffend Branchenauswahl zeigt sich das Duo kein bisschen zimperlich, und das ist wunderbar. Ihre Arbeiten werden zu Wimmelbildern der Stadt und ihrer Geschichte. Vor die Linse kamen und kommen den beiden Elektriker, Hutgeschäfte, Friseure, Schreibwarenhandlungen ebenso wie Zoohandlungen, Eissalons, Tapezierer oder Juweliere. All diese Sparten multipliziert mit den verschiedenen Designs, Schriften, Materialien und mehr oder weniger liebevoll dekorierten Schaufenstern ergeben einen unglaublich bunten Reigen an Eindrücken. In Summe entstand so eine Art durch die Zeit gereister Setzkasten mit unterschiedlichsten Koordinaten und Stilrichtungen zwischen verspielt, bunt, streng reduziert oder trist grau.

Graf und Frey wissen freilich um die lange Geschichte der Portalarchitektur Wiens Bescheid. Die Rede ist von Gestaltern wie Josef Hoffmann, Otto Wagner und Adolf Loos. Später kamen unter anderem Größen wie Hermann Czech oder Hans Hollein dazu. Letzterer zeichnete zum Beispiel für das ehemalige Kerzengeschäft Retti auf dem Wiener Kohlmarkt verantwortlich.

Neben den optischen Merkmalen stehen diese Orte allerdings auch für nicht sichtbare Geschichten, die zum Teil von vielen Generationen erzählen. Sie handeln hinter den Kulissen von Authentizität, von Familien und Schicksalen, aber auch von all den Menschen, die als Kundschaft ein und aus gingen. Dieser soziale Aspekt, der den Küchenwarenhandlungen, Bonbongeschäften oder Reifenhandlungen innewohnt, ergibt einen individuellen Mikrokosmos, mit dem es weder eine H&M-Filiale noch ein Apple-Store aufnehmen kann. "Die Inhaber geben diesen Orten die Seele", nennt es Frey, der das Langzeitprojekt als künstlerisch-dokumentarische Arbeit von zwei Beobachtern sieht.

Auf der Suche nach neuem Alten

Lieblingsfassade nennen die beiden keine. "Für uns handelt es sich jeweils um gleichwertige Erscheinungen, die zum gesellschaftlichen Gefüge einer Stadt zählen", erklären sie. Auch oder gerade weil sich die Suche nach Neuentdeckungen immer schwieriger gestaltet, freuen sich die beiden vor allem über diese.

Vienna, City, Fotografie, Geschäfte mit Geschichte
Viele erinnern sich noch an Feinkost-Böhle...
Martin Frey
Vienna, City, Fotografie, Geschäfte mit Geschichte
... mittlerweile teilen sich ein Uhrenhändler und ein Schönheitssalon das Geschäft (Wollzeile, 1. Bezirk).
Martin Frey

Noch interessanter wird die ganze Geschichte, weil es keineswegs pure Nostalgie ist, welche die beiden antreibt. Frey und Graf haben die Veränderung im Fokus und vor der Linse. Sie sehen sich als Stadtforscher, als Entdecker und betrachten die Veränderungen als eine Art urban-evolutionären Prozess.

Freilich kann es in der Seele wehtun, wenn liebgewonnene Läden ihre Türen für immer zusperren. Die Gründe dafür sind bekannt und mannigfaltig. Es findet sich niemand für die Nachfolge, Auflagen können nicht erfüllt werden, oder die Miete ist nicht mehr leistbar. Graf und Frey ist in diesen Belangen erstaunlicherweise kein allzu großer Missmut oder Groll anzumerken, obwohl es auch sie emotional berührt, wenn wieder mal einer ihrer Läden von der Bildfläche der Stadt verschwindet.

"Dinge verändern sich, aber wir verorten in diesem Bereich einen zunehmend positiven Zugang." Es komme immer öfter vor, dass Geschäfte lediglich ihr Innenleben austauschen. Als Beispiel nennt Frey ein Büro für Theater- und Opernkarten in der Nähe der Albertina, in dessen Geschäftslokal sich mittlerweile ein Shop für Fußball-Fanartikel eingenistet hat. Der Charakter der Fassade hat sich vor allem farblich verändert. Der Rahmen rund um die Auslagen blieb allerdings erhalten.

Friseur wird Kaffeegeschäft

Ein legendäres Friseurgeschäft in der Wiener Singerstraße, bei dessen Besuch man sich in den 40er-Jahren wähnte, beherbergt mittlerweile ein modernes Kaffeegeschäft. Die Fassade wurde mit Bedacht restauriert und bekam doch ein neues Gesicht. An einem anderen Flecken der Stadt zog eine Fahrradwerkstatt in ein Fachgeschäft für Vorarlberger Spitze ein. Nicht nur das Grün des Portals wurde beschützt, auch die Lettern über der Tür lehnen sich ein Stück weit am Schrifttyp des Vorgängers an.

In die Zukunft blickt das Duo, diese beiden Kunsthistoriker des Stadtalltags, optimistisch. "Wir spüren einen Trend zur Erhaltung und Renovierung. Viele wollen wieder individueller auftreten." Auf die Entwicklung wie sie auf dem Graben, auf der Kärntner Straße oder im Goldenen Quartier stattfand, blicken die beiden gelassen. Diese Tendenz sei stark mit den dort vertretenen großen Marken und dem Tourismus verbandelt.

Vergangenen Sommer haben die Stadtforscher erneut Kamera und Stativ eingepackt und sind losgezogen, um Veränderungen von Portalen festzuhalten, die sie bereits fotografiert hatten und welche zum Teil nicht mehr existieren. Zwischen den vergleichenden Aufnahmen liegt ein Zeitraum von bis zu zehn Jahren. Das Ergebnis liegt nun in ihrem neuen Buch Spurensuche 2023 – Beobachtungen urbaner Veränderung vor.

Vienna, City, Fotografie, Geschäfte mit Geschichte
Stadtforscher Philipp Graf und Martin Frey (re.).
Arman Rastegar

Bleibt zu hoffen, dass den beiden nie das Futter ausgehen möge. Es wäre schade, denn auch oder gerade solche Läden sind es, die einer Stadt Charakter verleihen. Die internationalen Ketten? Die gibt’s überall. Ein Geschäft wie den Werkzeug-Willi in Wien-Rudolfsheim oder eine Likörstube wie jene von Michael Stastny in Kaisermühlen kann man in Paris, New York oder Tokio lange suchen.

Nach dem Gespräch führt einen der Weg vorbei an Törtchen und Kuchen zurück auf die Kärntner Straße. Gegenüber vom Heiner liegt eine Art Supermarkt für Touristensouvenirs. Hier findet sich Mozart in Form von Bade-Enten, ferner Schneekugeln samt Stephansdom und Sisi-Taler aus Schokolade. Es fällt einem beim besten Willen nicht ein, welches Geschäft hier einst untergebracht war. (RONDO, Michael Hausenblas, 18. 11. 2023)