Designer und Architekt Matteo Thun blick auf eine lange und abwechslungsreiche Karriere zurück.
Designer und Architekt Matteo Thun blickt auf eine lange und abwechslungsreiche Karriere zurück.
Nacho Allegre

Matteo Thun sitzt gutgelaunt in einer Nische der Campari-Bar in der Wiener Innenstadt. Sein Studio war maßgeblich für die räumliche Gestaltung des Lokals verantwortlich. Anlass seines Besuchs in Wien, wo er von 1983 bis 1996 an der Universität für angewandte Kunst unterrichtete, ist eine kleine Schau, die zahlreiche Designs und Produkte zeigt, die er für Campari umgesetzt hat. Dazu zählen unter anderem Gläser, Vasen, Flaschen und Verpackungen aus vielen Jahren. Vor ihm steht ein Glas Wasser, den Campari gibt's später.

STANDARD: Sie sind jetzt 71 Jahre alt. Was würden Sie heute tun, wenn Sie noch einmal 20 wären? Wir sprechen vom Jahr 1972.

Matteo Thun: Ich glaube, ich würde wie damals Pilot werden wollen. Pilot einer Propellermaschine, also so bodennahe fliegen wie möglich. Bloß keine Langstrecke.

STANDARD: Warum sind Sie nicht Pilot geworden?

Thun: Ich war Pilot. Für Reklameflüge. Aber mein Mentor Ettore Sottsass (Architekt und Designer, Anm.) hat gemeint, er könne sich nicht mit jemandem zusammentun, der dauernd sein Leben riskiert.

STANDARD: Was haben Sie erwidert?

Thun: Ich sagte, ich müsse fliegen, weil er mich im Studio nicht bezahlt. Worauf er sagte, er würde nie jemanden bezahlen. Dafür schlug er mir vor, gemeinsam eine Gesellschaft zu gründen, die Sottsass Associati. Später kam auch die Gruppe Memphis hinzu. Das war also das Ende meiner Fliegerkarriere.

Ein Objekt aus der Leuchtenkollektion Murané von Matteo Thun und Benedetto Fasciana für Panzeri.
Ein Objekt aus der Leuchtenkollektion Murané von Matteo Thun und Benedetto Fasciana für Panzeri.
Piero Simonetto

STANDARD: Nehmen wir an, ein junger Mann, der so drauf ist, wie Sie es damals waren, würde sich heute bei Ihnen im Studio bewerben. Würden Sie ihn nehmen?

Thun: Ich glaube nicht.

STANDARD: Aus welchem Grund?

Thun: Ich studierte unter anderem Architektur an der Universität Florenz. Leider hatten die Lehrinhalte nichts mit dem zu tun, was ich in meinem Unternehmen brauche.

STANDARD: Was brauchen Sie denn?

Thun: Ich benötige konkretes Know-how im Bereich Psychologie, Gesetzgebung, Philosophie und Bauingenieurswesen.

STANDARD: Wie rekrutieren Sie? Ihr Architektur- und Designstudio Matteo Thun und Partners mit Sitz in Mailand und München ist ein großes Unternehmen.

Thun: Ganz einfach. Indem meine HR-Abteilung rausfindet, ob der Bewerber oder die Bewerberin fähig ist, Englisch zu sprechen. Beherrscht er oder sie Englisch, geht der Test weiter. Sonst nicht.

STANDARD: Springen wir wieder zu Ihren Anfängen. Haben Sie irgendetwas von dem, was sich seit Ihren Tagen mit Ettore Sottsass verändert hat, voraussehen können? Stichwort Ökologie und Kommunikationstechnologie?

Thun: Sottsass war ein Genie und wahrscheinlich einer der wenigen, der mehr von der Zukunft ahnte als andere. Nicht dass er sie restlos gekannt hatte, aber sein ganzheitlicher Ansatz brachte ihn viel näher an das Morgen heran. Er war ein professioneller Schriftsteller und Fotograf und hat als Architekt unglaublich visionäre Objekte gestaltet.

STANDARD: Bitte etwas konkreter, bleiben wir bei der omnipräsenten Kommunikationstechnologie, mit der wir heute leben, und dem Riesenbrocken Klimawandel. Waren dies Entwicklungen in den 70ern absehbar?

Thun: Für Sottsass sehr wohl. Er war Systemkritiker. Genauso wie mein zweiter Mentor, der Maler Emilio Vedova, ein überzeugter Maoist. Das war ich nie. Ihre Kritik bezog sich sehr wohl auf Themen, die uns heute um die Ohren fliegen. Die wussten, dass unser System gewaltige Defekte hat.

Entwürfe für eine Glaskollektion für Campari.
Entwürfe für eine Glaskollektion für Campari.
Archive Matteo Thun

STANDARD: Haben die beiden etwas dagegen unternommen?

Thun: Formulieren wir es folgendermaßen: Sie waren Schreier in der Wüste.

STANDARD: Sie waren von 1990 bis 1993 unter anderem Creative Director bei Swatch, haben also gewissermaßen eine ganze Menge Plastikmüll zumindest mitzuverantworten. Wie denken Sie heute darüber?

Thun: Ich habe zwei Jugendsünden zu verantworten. Die eine war Swatch, die andere meine Professur in Wien. Dieses Meisterklassenprinzip, dieses Denken in Schatullen ist mir einfach zuwider.

STANDARD: Apropos Hellsehen: Vor zehn Jahren sagten Sie mir, dass sich die Facebook-Generation in einer ausklingenden Phase befinde. Facebook ist zwar bei weitem nicht mehr die bedeutendste Plattform auf Social Media, aber In­stagram, Tiktok und Co sind doch letztlich nur Abwandlungen und sehr präsent.

Glas für Campari.
Glas für Campari.
Archive Matteo Thun

Thun: Instagram und Tiktok sind substanzielle Abwandlungen. Ich bin überrascht, dass ich Facebook schon vor Jahren als abklingend definiert habe. Aber wie man sieht, hat es sich bewahrheitet.

STANDARD: Und wie sieht es mit den anderen aus?

Thun: Instagrammability ist zurzeit auch bei uns Gestaltern ungeheuer gefragt. Wir realisieren gerade ein unglaublich spannendes Bauprojekt in einem Nationalpark in Kanada. Die ersten Fragen des Kunden bezogen sich auf Locations in Sachen Instagrammability. Das kann man natürlich ablehnen. Aber das wäre falsch. Wir müssen auf diese Fragen eingehen, genauso wie ich versuche, Ihre Fragen zu beantworten. Ich könnte ja auch "No comment" sagen.

STANDARD: Sagen Sie das als Geschäftsmann? Oder anders gefragt, ist Ihnen das angenehm oder unangenehm?

Thun: Lassen Sie es mich so sagen: Wir sitzen hier in einer Nische, die dunkelrot gestrichen ist. Der Auftraggeber entschied sich für diese Farbe, weil er sie für gemütlich hält. In dem Moment, in dem er mir das kundtat, empfand ich seine Entscheidung als richtig.

STANDARD: Sie hinterfragen sie nicht?

Thun: Nein. Zuvor waren die Nischen weiß gestrichen. Dass sie nun gemütlicher sind, ist wahr. Es war also eine gute Erkenntnis.

STANDARD: Sie sprechen im Zusammenhang mit Design gern von Emotion. Handelt es sich auch bei dieser Farb-Entscheidung um Emotion?

Thun: So ist es.

STANDARD: Welches Ihrer Objekte halten Sie für das emotionalste?

Thun: Das kann ich nicht sagen. Aber ich würde mir wünschen, dass all meine Dinge sensoriell sind. Auch zeitlos und ganzheitlich.

STANDARD: Sie sprachen in diesem Zusammenhang einmal von dem Entwurf einer Tasse.

Thun: Eine Tasse steht für das Erzählen einer Geschichte. Nehmen wir die von Meinl. Die ist einfach ein auf den Kopf gestellter Fez.

Entwurfsklassiker von Matteo Thun: Tassen für Meinl.
Entwurfsklassiker von Matteo Thun: Tassen für Meinl.
Meinl

STANDARD: Sie meinten bei unserem Gespräch seinerzeit auch, dass es keinen Mainstream mehr gebe. Wie sehen Sie das heute?

Thun: Die Stile werden mehr denn je pulverisiert. Meine Frau ist Stilprofi, sie kommt aus dem Bereich der Mode und meint, sie wisse nicht mehr, was richtig ist.

STANDARD: Was meinen Sie mit "richtig"?

Thun: Heute lautet das Credo "Anything goes". Wenn Sie die vergangenen Modeschauen in Mailand und Paris verfolgt haben, sahen Sie, dass sehr vieles Schwarz, Weiß oder Grau, also sehr unbunt war. Das war, wenn überhaupt, die einzig sichtbare Klammer.

Auch der Entwurf für die Tasse von Illy stammt von Matteo Thun.
Auch der Entwurf für die Tasse von Illy stammt von Matteo Thun.
Illy

STANDARD: Im Luxusmodebereich stehen die Leute vor Geschäften Schlange, um sehr viel Geld loszuwerden. Ich spreche von Chanel, Louis Vuitton, Hermès etc. Mir bereitet das Kopfschütteln. Wie denken Sie darüber?

Thun: Ich denke, dieses Phänomen ist am Ausklingen. Die Menschenschlangen vor solchen Geschäften bestehen hauptsächlich aus Menschen aus Fernost. Sie kaufen auf Bestellung von Freunden und Verwandten ein. Ich halte mich sehr oft in Schanghai auf, und mir fällt auf, dass die junge Generation, also die 20- bis 30-Jährigen, genauso denkt wie die Jungen bei uns.

STANDARD: Und wie denkt die?

Thun: Sie lehnt mehr und mehr das Markendenken ab und achtet auf Herkunft und Machart der Produkte. Das wird immer stärker.

STANDARD: In Wien scheint man da noch ein bisschen hinterherzuhinken. Lassen Sie uns bei der Zukunft bleiben. Künstliche Intelligenz ist mittlerweile in aller Munde. Wie wird sie sich Ihrer Meinung nach auf das Design auswirken? Ihr Kollege Philippe Starck hat bereits vor längerem einen Sessel mithilfe von KI gestalten lassen.

Thun: KI beschleunigt Prozesse, substituiert allerdings in keiner Weise die menschliche Kreativität. Warum sitzen Sie hier, und warum haben Sie nicht die KI gespeist mit den Interviews, die Sie bereits mit mir geführt haben?

Sessel aus der Kollektion Chiavarina.
Sessel aus der Kollektion Chiavarina.
Marco Bertolini

STANDARD: Nun, ich wollte Sie gern wiedersehen. Außerdem haben sich die Fragen verändert.

Thun: Wir schauen uns in die Augen, und wir sprechen über Dinge, die nicht vorhersehbar sind, über Inhalte, die die KI nicht wahrnehmen kann.

STANDARD: Was hätte Ettore Sottsass zur KI gesagt?

Thun: Schade, dass wir ihn nicht fragen können.

STANDARD: Ihr Studio besteht aus 100 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus den Bereichen Architektur, Grafik, Design etc. Auch Philippe Starck oder Antonio Citterio beschäftigen eine Vielzahl von Mitarbeitern. Wie viel Thun steckt in einem Entwurf aus Ihrem Studio in einem Projekt eigentlich noch drin?

Thun: Die meisten Leute bei uns sind schon lange an Bord. Außerdem habe ich fünf Partner, die genauso denken wie ich, zum Teil ticken sie moderner und innovativer als ich. Das finde ich sehr gut.

STANDARD: Ich frage anders: Wenn ich sagen würde, Herr Thun, würden Sie mir bitte ein Bügeleisen entwerfen? Tun Sie das dann auch wirklich?

Thun: Ich mach das Konzept des Bügeleisens und schau, dass dabei etwas Sensorielles herauskommt. Ich bin der einzige von 100 Leuten, der keinen Computer besitzt.

STANDARD: Warum das?

Thun: Ich bin der Meinung, dass die Hand die Intelligenz führt und nicht die Intelligenz die Hand.

STANDARD: Das heißt, Sie zeichnen?

Thun: Ich zeichne permanent. Ich habe immer ein, zwei Stifte bei mir. Architekturentwürfe kommen in Form von Aquarellen aufs Blatt. Sie sind die Startschüsse, die von meinen Leuten weiterentwickelt werden.

STANDARD: In Ihrem Alter genießen viele Menschen den Ruhestand. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Mixer aus der Familie Enfinigy von Matteo Thun und Antonio Rodriguez für Zwilling.
Mixer aus der Familie Enfinigy von Matteo Thun und Antonio Rodriguez für Zwilling.
Zwilling

Thun: Norman Foster ist 88 und arbeitet von früh bis spät und jettet permanent um die Welt. Mein Vorbild, der Architekt und Designer Renzo Piano, ist 86 und sagt, er möchte auf der Baustelle sterben.

STANDARD: Lassen Sie uns noch einmal zurückspringen. Herr Thun, war früher alles besser?

Thun: Ich habe volles Vertrauen in die Zukunft.

STANDARD: Weshalb?

Thun: Weil die Player der Zukunft nicht mehr nur ihr verdammtes Ego im Kopf haben, sondern Economy und Ecology.

STANDARD: In der Politik schaut es ein wenig anders aus.

Thun: Ich verstehe nichts von Politik, war nie einer Partei zugehörig, und so wird es auch bleiben. (RONDO, Michael Hausenblas, 16.11.2023)