Philippe Sands
Philippe Sands schreibt über vergangenes Leid und Unrecht, um es zu lindern und daraus für die Zukunft zu lernen.
Christian André Strand

Es ist kompliziert. Wollte man Philippe Sands’ Beziehung zu Österreich nach einem mehr als einstündigen Gespräch mit ihm so knapp wie möglich zusammenfassen, dann käme wohl diese kurze Formel heraus: Für jemanden, der in den ersten 17 Jahren seines Lebens laut eigener Aussage "nur Schlechtes über dieses Land und seine Hauptstadt hörte und dem alles Deutschsprachige verboten war", ist diese Ambivalenz wenig verwunderlich.

Dazu kommt, dass der englische Schriftsteller, Jurist und Universitätsprofessor in den letzten Jahren zwei Bücher geschrieben hat, in denen es um besonders dunkle Kapitel der österreichischen Geschichte geht: In dem 2016 erschienenen Weltbestseller East West Street (in deutscher Übersetzung: Rückkehr nach Lemberg), Sands’internationalem Durchbruch als Autor, schildert er unter anderem die dramatische Flucht seiner 1938 geborenen Mutter und seines Großvaters aus Wien. Und Die Rattenlinie (2020) rekonstruiert die Lebensgeschichte eines der mächtigsten österreichischen Nazis in allen Details und mit bis heute unangenehmen Nachwirkungen in Österreich.

Für diese Bücher und sein unermüdliches Engagement im Kampf gegen Ungerechtigkeit wird Sands dieser Tage nun aber erstmals auch in Österreich geehrt: Am Sonntag erhält er in Krems den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln. Und diese Auszeichnung blieb bei Sands, der sich auf gleich vielfältige wie scharfsinnige Weise gegen Ungerechtigkeiten aller Art engagiert, allem Anschein nicht ganz ohne Wirkung.

Eine besondere Ehrung

"Diese Ehrung ist für mich etwas Besonderes", sagt der vielfach Ausgezeichnete im Interview mit dem STANDARD. Sie stelle für ihn nämlich eine Verbindungslinie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart her: "In Gesprächen mit Verwandten haben wir uns immer wieder vorgestellt, wie sich mein Großvater im Jänner 1939 in Wien gefühlt haben mag, bevor er nach Paris flüchtete. 84 Jahre später haben Menschen in Österreich beschlossen, seinen Enkel zu ehren, der darüber geschrieben hat."

Dass Sands die Geschichte seiner Familie in einem Bestseller auf berührende Weise aufarbeitete, kam vergleichsweise spät in seinem Leben – nicht nur deshalb, weil diese Vergangenheit in seiner Familie tabu war, sondern auch wegen seiner Studien- und Berufswahl. 1960 in London geboren, studierte Sands Jus an der Cambridge University und arbeitete danach ein Jahr an der Harvard Law School. Als Jurist spezialisierte er sich auf Völkerrecht, das seit drei Jahrzehnten seine Hauptprofession ist – als engagierter Menschenrechtsanwalt, als Jurist am Internationalen Gerichtshof oder als Universitätsprofessor.

Junger Völkerrechtler

Auch sein später erster Besuch in Österreich geht darauf zurück, wie der überaus freundliche und herzliche 63-Jährige via Zoom erzählt: Sands hatte sich als junger Völkerrechtler mit Tschernobyl aus juristischer Sicht befasst, was zur Folge hatte, dass er Rechtsberater einer Greenpeace-Delegation wurde. Und das brachte den damals 28-Jährigen 1988 zur Internationalen Atomenergiebehörde nach Wien. "Ich erinnere mich noch heute daran, wie ich in einer Art Schockzustand durch die Straßen von Wien ging", sagt Sands, der damals auch die Taborstraße im zweiten Bezirk aufsuchte, um das Haus seines Großvaters zu finden, in dem seine Mutter geboren worden war.

In den folgenden Jahren beschäftigte sich Sands vor allem mit Fragen des Völkerrechts, und schrieb etliche Fachbücher, darunter auch das erste englischsprachige Lehrbuch zum internationalen Umweltrecht 1993. Das Thema hat ihn bis heute nicht losgelassen: Nächstes Jahr wird er einer der Hauptanwälte im Verfahren zum Klimawandel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag sein und sich dafür einsetzen, dass der von ihm mitgeprägte Begriff Ökozid als Verbrechen im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufgeführt wird.

"Das wird ganz sicher passieren, es ist nur eine Frage der Zeit", ist Sands überzeugt, der sich in einem Nebensatz auch von der österreichischen Justizministerin beeindruckt zeigt. "Sie sah sich in unserem Gespräch persönlich dazu verpflichtet. Ich weiß allerdings nicht, ob das auch für die österreichische Regierung gilt."

Familiäre Verlegerkontakte

Dass Sands neben seiner Tätigkeit als international anerkannter Topjurist quasi auch noch zum Bestsellerautor wurde, geht letztlich auf seine Frau zurück: Durch die Heirat mit Natalia Schiffrin, der Tochter des bekannten Verlegers André Schiffrin, vertiefte sich seine Beziehung zur Literatur und zu Büchern. Umgekehrt sei die Familie seiner Frau zwar an seiner juristischen Arbeit interessiert, weniger aber an der wissenschaftlichen Schreibweise, in der seine Bücher bis in die 1990er-Jahre abgefasst waren.

Durch Ermutigung von André Schiffrin versuchte er sich an populäreren Darstellungsformen. Mit dem 2005 erschienenen Buch Lawless World, das unter anderem die Legalität des Irakkriegs infrage stellte, sorgte er nicht nur in Großbritannien für öffentliche Debatten. Der Durchbruch als erzählender Sachbuchautor kam dann aber erst mit East West Street, das auf einen Vortrag in Lemberg zurückgeht. In dem in mehr als 20 Sprachen übersetzen Bestseller arbeitete er sechs Jahre lang und verwob darin auf eindrucksvolle Weise die Ursprünge des modernen Völkerrechts mit seiner eigenen Familiengeschichte.

Multimediale "Nebenprodukte"

Wie so oft in Sands'’Karriere führten die durch die Recherchen geknüpften Kontakte und Freundschaften zu den nächsten Projekten – und neuen Darstellungsformen. Auf Basis seiner Recherchen über den NS-Kriegsverbrecher Hans Frank, den Chef des Generalgouvernements, in dessen KZs auch Sands’ Urgroßmutter ermordet wurde, entstand die Performance A Song of Good and Evil über Themen aus Rückkehr nach Lemberg, die auch musikalisch erzählt werden. "Das geschriebene Wort ist das eine, das gesprochene Wort aber vor allem der Gesang können ganz andere, tiefere Emotionen auslösen", sagt Sands, der bei Aufführungen als Erzähler selbst auf der Bühne steht.

A Song of Good and Evil by Professor Philippe Sands
UCL Laws

Über den deutschen Journalisten Niklas Frank, den Sohn von Hans Frank, lernte Sands wiederum Horst Wächter kennen, den Sohn des Stellvertreters von Hans Frank im besetzten Polen. Mit den beiden entstand zunächst der Film What Our Fathers Did: A Nazi Legacy, in dem es um den diametral entgegengesetzten Umgang dieser beiden Söhne mit ihrer Familiengeschichte geht: Während der Deutsche in radikaler Weise damit abrechnete, verteidigt der Österreicher seine Eltern bis heute.

BBC My Nazi Legacy

Über das Leben und Nachleben von Otto und Charlotte Wächter schrieb Sands dann mit Die Rattenlinie sein nächstes akribisch recherchiertes und grandios erzähltes Buch. Und auch in dem Fall kam es zu einem spektakulären Nebenprodukt: Der grandiose zehnteilige BBC-Podcast The Ratline wurde millionenfach heruntergeladen. In Vorbereitung ist zudem eine achtteilige TV-Dokumentation.

Verdrängte Vergangenheit

Die ambivalente Beziehung zu Horst Wächter, den er mehrmals in dessen Schloss Hagenberg im Weinviertel besuchte, mag dazu beigetragen haben, dass sich Sands trotz seiner mittlerweile zahlreichen Besuche in Österreich hier immer noch weniger wohlfühlt als in Deutschland. "Dort hat man sich der NS-Geschichte anders gestellt als in Österreich", sagt Sands mit Verweis auf den langgepflegten Mythos von Österreich als erstem Opfer des "Dritten Reichs".

Andererseits habe ihn das in Österreich Erlebte indirekt auch erkennen lassen, "dass jede Familie, jede Gemeinschaft und jedes Land dazu neigt, unangenehme Aspekte ihrer Vergangenheit in die Dunkelheit zu verbannen". Das musste Sands mit seinem jüngsten Buch auch für Großbritannien zur Kenntnis nehmen: In Die Letzte Kolonie schreibt er gegen die neokolonialistische Vertreibung der Bewohner des Chagos-Archipels durch das Vereinigte Königreich an – was in seiner Heimat deutlich weniger gut ankam als die beiden Bücher über Nazi-Verbrechen.

"Aber das ist nun einmal das Herzstück meiner Arbeit", sagt Sands, "Geschichten über Unrecht zu erzählen, das aufgearbeitet und korrigiert werden muss – ohne dabei meinen Optimismus zu verlieren, selbst angesichts der Schrecken, die wir gerade erleben." Heute machte es für ihn keinen Sinn mehr, dies in Form von akademischen Büchern zu tun. "Ich habe begriffen, dass ich ein breiteres Publikum erreichen kann und muss, wenn ich Beiträge zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in internationalen Angelegenheiten leisten will."

Das nächste Buchprojekt

Das neueste Buch, an dem Sands gerade schreibt, wird das dritte in der Reihe sein, die mit Rückkehr nach Lemberg und Die Rattenlinie begann. In diesem Werk wird es um die Freundschaft zwischen dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet und dem deutschen Kriegsverbrecher Walther Rauff gehen, verrät Sands. Der SS-Standartenführer war entscheidend am Einsatz von Gaswagen zur Ermordung von Juden und anderen KZ-Häftlingen beteiligt, konnte nach 1945 aber zuerst in Italien und Syrien untertauchen, ehe er ab 1949 in Südamerika lebte und dort auch für den deutschen Bundesnachrichtendienst tätig war.

Sands, der als Jurist maßgeblich am Strafverfahren gegen Pinochet in London beteiligt war, wird sich in diesem Buch mehr literarische Freiheiten herausnehmen als in seinen bisherigen Werken – aber gewissermaßen über die Bande gespielt: Rauff komme als Nebenfigur in Büchern von Bruce Chatwin und Roberto Bolaño vor, die Dinge über Rauff behaupten, für die es keine wirklichen Beweise gäbe. Diese literarischen Referenzen werde er für sein Buch nützen.

Begegnungen mit Sophie Freud

Philippe Sands, dessen beeindruckende Fülle an juristischen und publizistischen Aktivitäten schier unüberschaubar ist und Zweifel aufkommen lässt, ob dieser Mann je schläft, ist aber nicht nur ein begnadeter Erzähler von wahren Begebenheiten. Er scheint gute Geschichten auch förmlich anzuziehen. Eine davon, die indirekt mit Wien zu tun hat, erzählt er gegen Ende des Gesprächs das erste Mal quasi öffentlich.

Nach dem Erscheinen von East West Street hatte er von einem befreundeten Anwalt in Boston erfahren, dass dessen Mutter eine Freundin habe, die mit ihm über sein Buch reden wollte. "Ich sagte ihm, dass ich 117 solcher Anfragen habe, worauf er erwiderte, dass ich in dem Fall wohl eine Ausnahme machen würde: Es handle sich nämlich um Sophie Freud, die letzte noch lebende Enkelin von Sigmund Freud."

Also besuchte Sands bei seinem nächsten Aufenthalt in Boston die damals 94 Jahre alte Psychologin – und war hingerissen: "Sie hatte ein kristallklares Gedächtnis und berichtete von den sonntäglichen Familientreffen bei ihrem Großvater und den Tanten, die auch in meinem Buch vorkommen. Sie erzählte mir völlig freimütig aus ihrem Leben, bis hin zu dem Geständnis, dass sie sich in den 1970er-Jahren in London in ihre Tante Anna verliebte und wohl eine Affäre mit ihr hatte."

Eine Autofahrt des Horrors

Fortan traf sich Sands immer wieder mit Freuds Lieblingsenkelin, wenn er in Boston war. Was eines Abends zu einem Erlebnis führte, das ihm mehr Angst einjagte als so gut wie alles, was er bis dahin erlebt hatte. "Nach einem gemeinsamen Abendessen hat sie nämlich darauf bestanden, mich in ihrem Auto zurück in meine Wohnung zu fahren. Beifahrer einer Mittneunzigerin auf einer Autobahn in Massachusetts zu sein war der absolute Horror."

Nichtsdestoweniger blieben sie in gutem Kontakt. "Während der Pandemie hat Sophie Freud angefangen, mir einmal pro Woche eine lange E-Mail zu schreiben und so nach und nach die ganze Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Ich schrieb höflich zurück, und nach etwa einem Jahr verkündete sie, dass sie sich in mich verliebt hatte. Also gestand ich meiner Frau, dass ich jetzt eine 96 Jahre alte Freundin habe, die bei Boston lebt und Sigmund Freuds Enkelin ist."

Die Korrespondenz habe bis kurz vor ihrem Tod im Juni letzten Jahres angedauert. Was er mit all dem faszinierenden Material machen werde, das sich im Laufe der Korrespondenz ansammelte, wisse er noch nicht. Klar sei für ihn aber, dass Wien das Herzstück ihrer Freundschaft gewesen sei – also jene Stadt, aus der nach dem "Anschluss" 1938 sowohl Sophie Freud als auch Sands’ Großvater und Mutter vertrieben worden waren.

Worte und Taten der Versöhnung

Dass sich nicht nur sein Verhältnis zu Wien, sondern auch das anderer Angehöriger seiner Familie zuletzt verbessert habe, illustriert er mit einer aktuellen Anekdote: Nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel schickte er einem entfernten Verwandten in Israel, mit dem er einige Jahre keinen Kontakt mehr gehabt hatte, als Zeichen der Solidarität eine Nachricht. "Er antwortete mir, dass er Israel schon vor einem Jahr verlassen hat, weil er gegen alles ist, was Netanjahu tut. Statt in Israel lebt er jetzt in Wien. Das kam für mich doch recht überraschend."

Ebenfalls überraschend, aber umso erfreulicher sei es gewesen, als er brieflich darüber verständigt wurde, den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln gewonnen zu haben. Der Preis bedeute für ihn auch eine Anerkennung dieses vergangenen Unrechts durch Österreich, sagt Sands zum Abschluss versöhnlich. "Die Vergangenheit sollte uns vor allem dabei helfen, heutige Herausforderungen besser zu bewältigen. Denn für mich ist es wichtiger, nach vorne zu blicken als zurück."

Das sind im Fall von Sands keine einfach so dahingesagten Worte. Das Preisgeld wird er – so wie die Preisgelder alle bisher erhaltenen Auszeichnungen – für Projekte und Organisationen spenden, die Ungerechtigkeit mindern und in die Zukunft weisen.Da er vor zwei Wochen auch noch den spanischen Premio Derecho y Sociedad erhielt, hat er dafür 40.000 Euro zur Verfügung, die an vier Initiativen gehen werden; zwei davon setzen sich für das friedliche Miteinander von Israelis und Palästinensern ein: das West-Eastern Divan Orchestra, das aus israelischen und arabischen Musikern besteht, sowie The Parents Circle. Für diese Friedensinitiative schlossen sich israelische und palästinensische Familien zusammen, die in diesem Konflikt Angehörige verloren haben. (Klaus Taschwer, 19.11.2023)