Mathematik gilt als die einzige Wissenschaft, die nicht irren kann. Ein Schelm könnte einwenden, dass sie derlei nur vermag, weil sie von eingebildeten Gegenständen handelt. In der Fantasie ist jeder sein eigener König.

Tatsächlich mag es in einer Welt, die derzeit von quälender Unsicherheit geplagt wird, unsportlich sein, die unbedingte Verlässlichkeit mathematischer Wahrheiten als Maßstab für andere Wissensgebiete zu nehmen. Doch die Mathematik nimmt tatsächlich eine ganz besondere Rolle ein. Dass ihre Gegenstände nicht real sind, hindert sie nicht daran, Wissen über sehr reale Dinge zu generieren. Die Natur scheint ein Fan von Mathematik zu sein, immer wieder werden dort Muster entdeckt, die zuvor nur als Gedankenkonstrukte bekannt waren.

Bei all ihren spektakulären Anwendungen ist gleich geblieben, dass die Gegenstände, von denen Mathematik handelt, in gewissem Sinn wählbar und eine Frage der Tradition sind. Das führte immer wieder zu faszinierenden Grundlagenstreitigkeiten. Einen solchen Streit konnte der US-amerikanische Mathematiker Paul Cohen schlichten. Im Dezember vor 60 Jahren zeigte er, dass das Unendliche ein Mysterium bleiben muss.

Was tun mit dem Unendlichen

Das Unendliche hatte die Mathematik schon seit der Antike verwirrt. Existiert es wirklich? Lässt es sich vorstellen? Oder sollte man es gar nicht erst zum Gegenstand von mathematischer Analyse machen? Der deutsche Mathematiker Georg Cantor schuf gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tatsachen, indem er Methoden zur Behandlung des Unendlichen entwickelte, die so faszinierend und praktisch waren, dass sie sich nicht ignorieren ließen.

Eine seiner Entdeckungen ist die Unterscheidbarkeit verschiedener Formen des Unendlichen. So zeigte er etwa, dass die Menge der reellen Zahlen größer ist als die der natürlichen Zahlen. Plastischer gesprochen: Die Menge der möglichen Positionen auf einer Strecke ist größer als alle Mengen von Objekten, die einen Vorgänger und einen Nachfolger haben. Was "größer" in diesem Zusammenhang heißen soll, wird in Cantors Beweis greifbar, der zeigt, dass man die reellen Zahlen mithilfe der natürlichen Zahlen nicht "abzählen" kann, selbst wenn man erlaubt, bis ins Unendliche zu zählen. Es müssen immer Lücken bleiben.

Cantors forsche Methoden zur Behandlung des Unendlichen ermöglichten eine Hochblüte der Mathematik, die schon bald als paradiesisch bezeichnet wurde. Manchen war ein derart freier Umgang mit etwas so Verwirrendem wie dem Unendlichen unheimlich, doch aufgrund des Erfolgs schien kein Weg zurück zu führen.

Der deutsche Mathematiker David Hilbert, hier mit modischem Hut abgebildet.
gemeinfrei

Ein für alle Mal Klarheit

Doch der Boden, auf dem man dieses Mathematikgebäude errichtet hatte, erwies sich als weniger fest als anfangs geglaubt. Der deutsche Mathematiker David Hilbert, ein vehementer Verteidiger der offensiven Nutzung des Unendlichen, wollte um 1900 Klarheit schaffen. Er forderte, die gesamte Mathematik auf ein Fundament aus wenigen Grundaussagen zu stellen. Und diese Aussagen sollten mithilfe mathematischer Mittel auf Herz und Nieren geprüft werden.

Nun ist eine unabhängige, kritische Überprüfung wissenschaftlicher Methoden keine einfache Angelegenheit. Je sorgfältiger etwas untersucht wird, desto mehr wird die Untersuchung selbst zu Wissenschaft, und die Unabhängigkeit steht infrage. Auch für die Mathematik gilt, dass die einzigen Methoden, denen ihre Untersuchung zuzutrauen ist, mathematische sind. Dass derlei tatsächlich machbar ist, erkannte im 19. Jahrhundert George Boole. Er zeigte, dass das menschliche Denken verblüffend mathematisch ist, wobei das "und" einer Multiplikation und das "oder" einer Addition entspricht. Aussagen lassen sich in Reihen mathematischer Symbole umwandeln, die mathematisch untersucht werden können.

Was erwartet man sich von einer solchen Analyse? Mathematische Beweise selbst bedürfen nicht unbedingt einer Untersuchung, sie gelten schließlich als sicher. Doch man erkannte, dass mithilfe der von Boole begründeten Methoden beurteilt werden könnte, welche mathematischen Aussagen beweisbar sind und welche nicht.

Eine frühe Aufnahme von Georg Cantor, der zeigte, wie sich unendliche Mengen mathematisch bändigen ließen.
gemeinfrei

Wider den Widerspruch

Hilbert forderte, diese Methoden zu verwenden, um die Mathematik noch sicherer zu machen. Das schien gerade aufgrund der Zweifel an der Verwendung des Unendlichen nötig. Seine Forderung beinhaltete daher, dass die Grundaussagen, auf denen die Mathematik aufgebaut werden sollte, einander nicht widersprechen dürften. Diese Widerspruchsfreiheit sollte mathematisch bewiesen werden. Damit begann eine faszinierende Epoche, in der die Mathematik auf sich selbst angewandt wurde, allerdings nicht mit dem Ergebnis, das sich Hilbert erhofft hatte.

Es kam dem Logiker Kurt Gödel zu, Hilberts Hoffnungen zu zerstören. Er konnte zeigen, dass jedes System aus Formeln, das mächtig genug ist, daraus die gesamte Mathematik herzuleiten, entweder tatsächlich Widersprüche enthält oder aber unvollständig sein muss.

Der Logiker Kurt Gödel bei einer Preisverleihung am Amherst College im Jahr 1967.
gemeinfrei

Anders gesagt: In der Mathematik lässt sich nicht alles, was wahr ist, beweisen. Seine geniale Methode bestand darin, dass er einen Satz konstruierte, der eine Aussage über sich selbst machte und behauptete: "Ich bin falsch." Wäre er beweisbar, führte das zu einem Widerspruch. Den Trick, den Gödel benutzte, gibt es in verschiedener Form seit der griechischen Antike. Besonders schön findet er sich in der Definition, dass ein Barbier ein Mann sei, der alle rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Wer rasiert ihn? (Hier bietet sich eine schöne Gelegenheit, sich einen Kaffee zu machen und darüber nachzudenken, wenn das Ihr Ding ist.)

Es wird schon nicht so schlimm sein

Gödel hatte Hilberts Hoffnungen zunichtegemacht, aber wie weitreichend das Ergebnis war, erschien anfangs nicht klar. Dass das Gebäude aufgrund unbekannter Widersprüche zusammenstürzen konnte, befürchtete kaum jemand. Gödels sonderbarer Satz erschien als Kuriosität, und es gab keinerlei Anzeichen, dass es weitere Sätze geben könnte, die sich nicht beweisen ließen. Doch dann betrat Paul Cohen die Bildfläche. Er führte die Diskussion in gewissem Sinn an ihren Ursprung zurück: zum Unendlichen.

Der 1934 in den USA geborene Cohen fiel früh durch seine Begabung für Mathematik auf. Er galt als Wunderkind, das sich bei diversen Wettbewerben hervortat, lernte gern im Alleingang anhand alter, klassischer Fachliteratur und schloss die Schule vorzeitig ab, um auf die Universität zu gehen. Cohen galt nicht nur als ausgezeichneter Fachmann, sondern erwies sich abseits seines Fachgebiets als charismatisch und scharfsinnig, wobei er logische Ungereimtheiten von Gesprächspartnern in Diskussionen mit Genuss bis zum bitteren Ende verfolgte. Die Mathematikerin Kathy Driver sagte über ihn: "Paul war ein erstaunlicher Mann. Ungeduldig, rastlos, kämpferisch, provokativ und brillant." Sein Interesse galt den "großen Fragen", und schon bald lieferte er Arbeiten, die später mit Mathematikpreisen ausgezeichnet wurden.

1961, in seinem ersten Jahr an der Universität Stanford, begann er sich als Quereinsteiger mit den von Hilbert und Gödel aufgeworfenen Fragen der mathematischen Logik zu beschäftigen. Er entwickelte 1963 eine revolutionäre Methode, die "Forcing", zu deutsch "Erzwingen" genannt wird. Das Verfahren erlaubt es, sehr vereinfacht gesprochen, ein bestehendes mathematisches System zu erweitern und dabei zwingend bestimmte Eigenschaften vorauszusetzen. Die Auswirkungen waren so tiefgreifend, dass sie ihm die höchsten Auszeichnungen der Mathematik einbrachten, darunter die Verleihung der Fieldsmedaille im Jahr 1966. Was war es, das für so großes Aufsehen sorgte?

Paul Cohen bei einem Auftritt in Wien, ein Jahr vor seinem Tod.
ericcohen911

Das Unendliche entzieht sich

Cohen schloss eine Arbeit ab, die Kurt Gödel begonnen hatte. Gödel hatte sich im Zuge seiner Untersuchungen der Beweisbarkeit von mathematischen Aussagen auch mit einer Vermutung beschäftigt, die auf Georg Cantor zurückgeht. Cantor hatte ja gezeigt, dass es verschiedene Formen des Unendlichen gibt und sich die reellen Zahlen nicht mithilfe der natürlichen Zahlen abzählen lassen.

Doch es gab eine Frage, die Cantor nicht beantworten konnte und die auf David Hilberts Liste der wichtigsten mathematischen Probleme Platz eins einnahm: Gibt es zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen weitere Formen der Unendlichkeit? Anders gesagt: Gibt es eine Menge, die sich nicht abzählen lässt, die aber weniger Elemente enthält als die reellen Zahlen? Cantor vermutete, dass es keine solche Menge gebe. Diese Vermutung wurde als Kontinuumshypothese bekannt.

Hilbert hielt das Problem für lösbar, doch noch in den 1960er-Jahren war eine Lösung in weiter Ferne. Cohen konnte zeigen, warum das so war. Er machte Gebrauch von einer Entdeckung Kurt Gödels, der gezeigt hatte, dass sich die Kontinuumshypothese mit den Standardmethoden nicht widerlegen lässt.

Das könnte man eigentlich als Hinweis darauf auffassen, dass die Kontinuumshypothese wahr ist. In vielen Bereichen unseres Lebens haben wir kein Problem damit, etwas als wahr anzuerkennen, das sich nicht widerlegen lässt, man denke nur an die Wissenschaftstheorie Karl Poppers, laut der das Scheitern von Widerlegungsversuchen das Beste ist, was wir von einer wahren Aussage über reale Gegenstände erhoffen dürfen.

Paul Cohen bei einer Konferenz im Jahr 1977.
C.J.Mozzochi, Courtesy of the Simons Foundation

Doch Cohen gelang ein genialer Schachzug: Er bewies mithilfe des Forcings, dass die Kontinuumshypothese auch nicht beweisbar ist. Das tat er, indem er zeigte, wie Mengen "erzwungen" werden konnten, die die Kontinuumshypothese verletzten. Der Versuch eines Beweises ist damit hinfällig. Da sie also weder widerlegbar noch beweisbar ist, lässt sich ihre Wahrheit mathematisch nicht feststellen. Die Frage ist unentscheidbar. Das war das Ergebnis, das Cohen vor 60 Jahren bewies. Das Forcing etablierte sich seither als Standardmethode für ähnliche Untersuchungen. "Das Forcing wird uns begleiten, solange Menschen über Mathematik und Wahrheit nachdenken", stellte der Mathematiker Hugh Woodin in einer Vorlesung fest. Cohen selbst sagte später, er fühle sich "wie ein Vater, dessen Sohn viel weiter gekommen ist, als er es je für möglich gehalten hätte".

Es bleibt der Glaube

Übrig bleibt die Erkenntnis, dass kein Weg darum herumführt, sich gewisse Eigenschaften der Gegenstände, von denen Mathematik handelt, auszusuchen. Die Kontinuumshypothese kann als wahr oder falsch angenommen werden, ohne zu Problemen für die Mathematik zu führen. Die Natur des Unendlichen ist keine metaphysische Wirklichkeit, der man sich mittels logischer Mittel annähern kann. Sie muss vorausgesetzt werden wie ein Glaubenssatz. Die Mathematik nimmt dem Menschen die Entscheidung, wie er oder sie sich das Unendliche vorstellen will, nicht ab. (Reinhard Kleindl, 26.12.2023)