Rund sechs Kilometer von jener Linie entfernt, die Israel an der Nordgrenze Jerusalems von den Palästinensergebieten trennt, liegt die israelische Haftanstalt 385. Das Ofer-Gefängnis gibt es seit den späten 1960er-Jahren, betrieben wird es trotz seines Standortes von der israelischen Gefängnisverwaltung. Untergebracht sind dort bis zu 1200 Menschen – unter ihnen waren auch jene, die am Freitag als Erste im Zuge des Deals zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel freigekommen sind. Sie sind der im Westen vermutlich am wenigsten beachtete Teil der Vereinbarung – aus Sicht der Palästinenser aber ist ihre Freilassung bedeutend. Die Bilder von ihrem Empfang am unweit vom Gefängnis gelegenen Checkpoint Baituniya, bei dem laut anwesenden Reportern von Teilen der Menge auch Hamas-Flaggen geschwenkt und deren Slogans gerufen wurden, sind für die eigentlich in Gaza dominierende Terrorgruppe auch ein Propagandaerfolg.

Mit einem Bus wurden am Montag freigelassene Gefangene nach Ramallah gebracht.
IMAGO/Ayman Nobani

Wie genau aber funktioniert noch einmal der Deal? Und wer sind die nun Freigelassenen, warum waren sie in Haft? DER STANDARD versucht einen Überblick zu bieten.

Die Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas, die maßgeblich von Katar vermittelt wurde, ist am vergangenen Freitag in Kraft getreten. Beide Seiten verpflichten sich darin zu einer Einstellung der Kampfhandlungen – und haben sich auch weitgehend daran gehalten. Im Gegenzug lässt die Hamas Frauen und Kinder frei, die sie während ihres pogromartigen Terrors gegen Kibbuz- und Stadtbewohnerinnen und -bewohner in der Nähe des Gazastreifens am 7. Oktober verschleppt hatte. 50 von ihnen sind in den vergangenen Tagen auf diese Weise freigekommen, unter der nun in Kraft getretenen Verlängerung des Deals lässt die Hamas weiter täglich mindestens zehn Menschen frei. Weil die Zahl der entführten Frauen und Kinder, die man noch freilassen kann, am Mittwoch laut einer Zählung der Agentur Reuters überschritten ist, könnten dann, im Falle einer Verlängerung, erstmals auch Männer freikommen.

Hamas lässt erste Geiseln frei
Video: Ende vergangener Woche wurden die ersten israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen freigelassen.
AFP

Große Bandbreite der Taten

Bleiben die Palästinenser in israelischer Haft: Für jede von der Hamas freigelassene Geisel lässt Israel laut dem Deal drei Menschen frei, die derzeit in einem israelischen Gefängnis einsitzen. Hier geht es laut der Vereinbarung um Frauen sowie um junge Männer, die als Minderjährige in Haft gekommen sind. Israel hat hier eine Liste mit insgesamt 300 Namen vorgelegt, auf der knapp auch das Alter und die jeweiligen Anklagepunkte aufgeführt sind. Der britische TV-Sender Sky News hat diese analysiert. Demnach handelt es sich unter den 300 um 33 Frauen und 267 Männer. Nur 30 der Personen sind über 18 Jahre alt, 146 genau 18. Es sind aber auch fünf 14-Jährige und sechs 15-Jährige darunter.

Groß ist die Bandbreite bei den ihnen zur Last gelegten Taten. Israel hatte sich schon zuvor festgelegt, dass niemand infrage kommt, der oder die wegen Mordes in Haft sitzt. Versuchter Mord steht in 117 Fällen als Grund für die Haft vermerkt. In 74 Fällen aber geht es um das Werfen von Steinen auf israelische Soldaten, das in Israel mit Haftstrafen von bis zu 20 Jahren enden kann. 50 Fälle tragen zur Begründung der Haft die Anmerkung "Hamas-Mitgliedschaft".

In einigen der Fälle versuchten Mordes sind die Anschuldigungen sehr klar. Für Aufmerksamkeit sorgte unter anderem die Freilassung von Israa Jabis, die 2015 wegen eines fehlgeschlagenen Selbstmordanschlags zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, nachdem sie an einem Polizei-Checkpoint einen Gaskanister in ihrem Auto in Brand gesteckt hatte. Sie selbst erlitt damals schwere Verbrennungen, ein Polizist wurde ebenfalls schwer verletzt. In anderen Fällen geht es etwa um Stichwaffenangriffe, darunter auch auf israelische Zivilistinnen und Zivilisten.

Ähnlich klare und schwerwiegende Vorwürfe gibt es aber bei weitem nicht in allen Fällen – und die Situation lenkt auch einiges an Aufmerksamkeit auf den Umgang der israelischen Justiz und ihrer Behörden mit den Palästinensern. Eine Mehrheit der Personen auf den Listen – laut der BBC etwa 75 Prozent – wurde nämlich nie gerichtlich verurteilt. Sie zählen bzw. zählten mehrheitlich zu jenen mindestens rund 2.000 (von insgesamt rund 7.200), die nicht nach Verurteilung durch ein Gericht, sondern infolge von Administrativhaft hinter Gittern sitzen.

Hohe Verurteilungsraten

Diese Maßnahme – die in abgewandelter Form auch in anderen demokratischen Staaten existiert, dort aber wesentlich seltener zu Anwendung kommt – kann in Israel für acht Tage von Behörden verhängt und anschließend von einem Militärrichter unbegrenzt oft für je sechs Monate verlängert werden. Dieser ist nicht verpflichtet, den Betroffenen die genauen Vorwürfe gegen sie mitzuteilen. Berufungsrechte gibt es in der Theorie, tatsächlich werden die Sprüche dabei fast immer bestätigt. Zu diesen Vorwürfen kommen auch solche gegen das Justizsystem selbst. Palästinenser aus dem Westjordanland werden von Israel vor Militärgerichte gestellt. Ihre Verurteilungsraten sind hoch – im Jahr 2010, für das konkrete Daten vorliegen, lagen sie etwa bei 99,7 Prozent. Für das Jahr 2015 gibt es Daten für Minderjährige, deren Verurteilungsrate lag bei 95 Prozent.

Wie es mit dem Deal weitergeht, war am Dienstagnachmittag noch offen. Berichte über Verhandlungen zwischen den Chefs der US-amerikanischen CIA, William Burns, des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, David Barnea, und des katarischen Premiers Mohammed bin Abdulrahman Al Thani legen aber nahe, dass eine Verlängerung über den Mittwoch hinaus möglich ist. (Manuel Escher, 28.11.2023)