Feldgendarmen der deutschen Wehrmacht bewachen auf einem Marsch sowjetische Kriegsgefangene.
Feldgendarmen der deutschen Wehrmacht bewachen auf einem Marsch sowjetische Kriegsgefangene.
Scherl / SZ-Photo / picturedesk.

Mein Urgroßvater Anton starb, lange bevor ich geboren wurde. Trotzdem begleitet er mich schon fast mein ganzes Leben. Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als ich sie zum ersten Mal hörte, die eine Geschichte, die man sich in meiner Familie über ihn erzählte. Sie handelt vom Krieg und von einer Lüge, die meinem Urgroßvater das Leben rettete. Sie handelt von der Gefangenschaft und der Heimkehr in ein altes Leben. Und sie handelt von einem Suizid, weil dieses Leben fremd und unerträglich geworden war. Es hat Jahre gedauert, bis es mir gelang, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen. Was ich herausfand, ließ mich schaudern.

In meiner Familie erzählte man sich von der Flucht meines Urgroßvaters Anton aus dem Kessel von Stalingrad im Winter 1942/43. Er ist Angehöriger der Feldgendarmerie, die nicht nur für vermeintlich unverdächtige Aufgaben wie Verkehrsregelung eingesetzt wird. Sie ermittelt auch in den eigenen Reihen gegen Deserteure und geht brutal gegen Widerstand aus der Zivilbevölkerung vor. Auf der Flucht gelangt Anton an einen breiten Fluss. Um nicht in seiner Uniform hindurchschwimmen zu müssen, zieht er sich aus und schiebt seine Kleider in einem Bündel vor sich her – anders als der Soldat neben ihm. Als sich dessen Uniform mit Wasser vollsaugt, droht er zu ertrinken. Mein Urgroßvater lässt sein Bündel treiben und rettet den Kameraden.

Doch als sie am anderen Ufer ankommen, warten dort bereits die Soldaten der Roten Armee. Dass mein Urgroßvater nun nackt vor ihnen steht, soll sein Glück sein: Ohne seine Uniform ist er nicht als Angehöriger der Feldgendarmerie identifizierbar, die, so geht das Gerücht um, aus Rache sofort von "den Russen" erschossen werden. So aber kommt er nur für lange Zeit in Gefangenschaft. Nach Hause kehrt er als gebrochener Mann zurück – und wird sich Jahre danach das Leben nehmen.

Mein Urgroßvater Anton Windisch, vermutlich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Mein Urgroßvater Anton Windisch, vermutlich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.
privat

Die Fragen

Diese kurze Geschichte in ihrer harten Abfolge aus Überleben und Sterben hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Ist sie Wahrheit oder Erfindung? Was hat mein Urgroßvater während des Krieges gesehen, erlebt, getan, das ihn auch Jahre danach verfolgte und letztlich in den Tod trieb? In meiner Familie gab es darauf keine Antworten, weil niemand die Fragen stellte.

Lange dachte ich, dass sie sich nie klären werden. Im Jahr 2019 erfahre ich durch Zufall, dass das Ludwig-Boltzmann-Institut in Graz Listen über Kriegsgefangene in Russland führt. Dass meine Mail dorthin eine jahrelange Suche einleiten wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn die kurze Antwort wirft noch mehr Fragen auf: Mein Urgroßvater kam nicht bei Stalingrad in Gefangenschaft, sondern eineinhalb Jahre später und 1.300 Kilometer weiter nordwestlich am 2. Juli 1944 bei Minsk. In den kommenden Jahren arbeite ich mich durch Dachböden und Archive, um zu verstehen, wer mein Urgroßvater war, von dem niemand etwas weiß.

Anton wird 1907 als uneheliches Kind in Graz geboren. Als eine Mischung aus Ziehsohn und Knecht kommt er auf einen Bauernhof in der Nähe von Graz. Im April 1933, nur wenige Wochen nach der Ausschaltung der Ersten Republik durch den Austrofaschisten Engelbert Dollfuß, tritt Anton dem Alpenjägerregiment Nr. 9 in Graz bei. Ob aus Überzeugung oder in der Hoffnung auf einen sicheren Arbeitsplatz inmitten einer Wirtschaftskrise, bleibt unklar. Doch schon 1934 wird scharf geschossen. Das Regiment meines Urgroßvaters wird in Graz und Voitsberg dazu eingesetzt, gegen die sozialdemokratischen Aufständischen der Februarrevolution vorzugehen. Es gibt Tote auf beiden Seiten.

Das Hakenkreuz

Im Juli 1938 heiratet Anton meine Urgroßmutter Maria. Sie bekommen einen Sohn. Auf ihrem Trauschein prangt bereits groß das Hakenkreuz – fünf Monate zuvor war der "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich über die Bühne gegangen. Am 1. September 1939 greift Deutschland Polen an, der Zweite Weltkrieg beginnt. Jetzt kämpft Anton – er ist mittlerweile Obergefreiter – nicht mehr für den Austrofaschismus, sondern für den Nationalsozialismus.

Um herauszufinden, wo genau mein Urgroßvater unter dem Hakenkreuz gekämpft hat, wende ich mich an das Deutsche Militärarchiv in Berlin. Dort sind die Stationen seiner Wehrmachtskarriere verzeichnet – wie die vieler anderer Soldaten. Mithilfe von Nachschlagewerken, historischen Karten und digitalisierten Unterlagen der Wehrmacht lassen sich seine Wege gut rekonstruieren. Beim Blättern durch tausende maschinengeschriebene Seiten, die teils vom Zahn der Zeit deutlich in Mitleidenschaft gezogen wurden, präsentiert sich mir langsam ein klareres Bild.

Die Akten

Die ersten Jahre des Krieges bleibt Anton in Graz stationiert. Als die Wehrmacht im Frühjahr 1941 Jugoslawien angreift, ist er nicht an vorderster Front dabei. Wohl ab Mai 1941 kommt er dann gegen Partisanen im besetzten Slowenien zum Einsatz. Das Gebirgsjägerregiment Admont, dem mein Urgroßvater 1943 angehört, beteiligt sich im Oktober und November etwa an der als "Säuberungsaktion" bezeichneten "Operation Wolkenbruch" gegen Partisanengruppen in Slowenien und Kroatien. Soldaten von Wehrmacht und SS gehen bei diesen Aktionen gezielt gegen Ortschaften im Hinterland der Front vor, in denen sie Widerstandskämpfer vermuten. Teilweise setzen sie Häuser in Brand, es kommt zu Erschießungen und anderen brutalen Hinrichtungen. Gilt ein Gebiet als von "Banden" gesäubert, ziehen die Einheiten weiter.

Anton (Mitte) mit zwei Kameraden 1941 in Cilli, dem heute slowenischen Celje.
Anton (Mitte) mit zwei Kameraden 1941 in Cilli, dem heute slowenischen Celje.
privat

Doch wie landet Anton ein halbes Jahr später in der Nähe von Minsk? Die Aufzeichnungen über ihn im Militärarchiv brechen im Jahr 1943 ab. Vermerkt ist noch eine Ausbildung an einer Feldgendarmerieschule in Görnau, dem heute polnischen Zgierz. Danach klafft eine Lücke.

Um sie zu schließen, schaue ich mir die Einheiten, denen mein Urgroßvater angehört, noch einmal genauer an. Besonders ins Auge sticht mir das Landesschützen-Ersatz- und Ausbildungs-Bataillon 18. Dieses Bataillon schickt während des Krieges Ersatzsoldaten an viele Einheiten, etwa in die Ukraine oder nach Frankreich. Aber auch an das Sicherungs-Regiment 601, das Teil der 201. Sicherungs-Division ist und im rückwärtigen Raum der Ostfront zwischen Wizebsk und Minsk zum Einsatz kommt.

In Dokumenten, die die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht erbeutet hat, sind Nachweise darüber enthalten, dass sich die Division in diesem Zeitraum mehrere Hundert Ersatztruppen sichert. Und das mit einem eindeutigen Plan: der Vernichtung aller Partisanen im besetzten Gebiet. Die Erfahrung meines Urgroßvaters im Partisanenkampf könnte ausschlaggebend dafür sein, dass auch er in den Osten verlegt wird.

Die Säuberungen

Schon 1941 hatte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, erlassen, dass Partisanen im Feldzug gegen Russland nicht gefangen zu nehmen, sondern augenblicklich zu erschießen seien. Vergehen von deutschen Soldaten gegen "feindliche Zivilpersonen" werden von höchster Ebene außer Strafe gestellt. Ein Freibrief für brutale Massaker.

Ob mein Urgroßvater daran beteiligt ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Vorstellung allein lässt mich in der Zeit meiner Recherchen oft schlecht schlafen. Die Unterlagen über die Einsätze des Regiments lesen sich kalt und trocken: Sie sind der Geschäftsbericht eines Killerkommandos.

Bei den Operationen der Sicherungs-Division 201 sterben im Frühjahr 1944 nach Wehrmachtsangaben über 7.000 Partisanen. Ebenso viele werden gefangen genommen. Schätzungen zufolge sollen in vergleichbaren Aktionen auf dem Gebiet des heutigen Belarus 345.000 Partisanen und Zivilisten getötet worden sein. Der Historiker Christian Hartmann nennt Belarus das "unbestrittene Zentrum des Partisanenkrieges".

Die Gefangenschaft

Am 22. Juni 1944 startet die Rote Armee eine Großoffensive mit rund 1,3 Millionen Soldaten, der die deutsche Wehrmacht nichts mehr entgegenzusetzen hat. Die Aufzeichnungen präsentieren ein Bild des Chaos und der Auflösung. Die Soldaten versuchen sich nach Westen Richtung Minsk abzusetzen. Am 2. Juli ist die Flucht durch Wälder und Sümpfe für Anton zu Ende, er wird gefangen genommen. Die sowjetische "Operation Bagration" fordert zehntausende Gefallene und hunderttausende Gefangene. Auf dem Marsch in die Gefangenenlager, die in der ganzen Sowjetunion verstreut sind, stirbt Schätzungen zufolge jeder vierte bis fünfte Wehrmachtssoldat an Erschöpfung.

Aber hat sich Antons Gefangennahme so abgespielt, wie es in meiner Familie über Jahrzehnte hinweg erzählt wurde? So nicht, aber vielleicht so ähnlich. Denn nach Monaten der Recherche halte ich ein Dokument in Händen, das mir meinen Urgroßvater so nahe bringt wie kein anderes zuvor. Es ist eine Akte des russischen Inlandsgeheimdienstes NKWD, angelegt am 20. August, als Anton im Kriegsgefangenenlager 126 Nikolajew (ukrainisch Mykolajiw) am Schwarzen Meer eintrifft. Nach langem Warten habe ich sie vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes erhalten. Wochenlang versuche ich nun, die kyrillische Handschrift des Geheimdienstmitarbeiters zu entziffern, zu transkribieren und zu übersetzen.

Was mein Urgroßvater dem NKWD auftischt, ist ein Geflecht aus Vortäuschungen und Lügen, das wohl dazu dienen soll, ihm buchstäblich die Haut zu retten. Erst im April 1942 sei er zum Heer eingezogen worden, gibt er an. Dass er Feldgendarm war, verschweigt er. Er sagt, er habe nur als Schuster für die Panzerjäger-Ersatzabteilung 48 gearbeitet. Dieser Einheit hat er zwar tatsächlich einmal angehört – aber im Jahr 1939. Sie könnte als seine erste Station in der Wehrmacht auf seiner Erkennungsmarke vermerkt gewesen sein. An der Ostfront war diese Abteilung nie. Trotzdem scheint man ihm seine Geschichte abzukaufen.

Hätte er all das glaubhaft machen können, wenn er bei der Gefangennahme seine eigene Uniform mit ihrer markanten Feldgendarmen-Halskette getragen hätte? Es gibt Berichte, wonach in späteren Kriegsjahren Feldgendarmen ein gefälschtes Soldbuch erhalten, das ihre wahre Rolle verschleiern soll. Womöglich ist es also auch ein Stück Papier, das Anton davor rettet, als Kriegsverbrecher verurteilt zu werden.

Eine Seite aus der Akte, die der russische Inlandsgeheimdienst NKWD 1944 über meinen Urgroßvater anlegt.
Eine Seite aus der Akte, die der russische Inlandsgeheimdienst NKWD 1944 über meinen Urgroßvater angelegt hat.
privat

Die Heimkehr

Drei Jahre verbringt mein Urgroßvater in Nikolajew. Rund 6.000 Menschen sterben hier in dieser Zeit an Hunger, Typhus oder Ruhr. Von insgesamt rund drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen lassen etwa 1,16 Millionen in den Lagern oder auf dem Weg dorthin ihr Leben.

Was weiß Antons Familie in all diesen Jahren von ihm? Alles, was geblieben ist, ist die Erzählung von einem Gelübde meiner Urgroßmutter: Sollte ihr Mann je aus dem Krieg heimkehren, wolle sie für den Rest ihres Lebens das vorösterliche Fasten erst am Ostermontag brechen, nicht wie üblich am Karsamstag. Kein geringer Einsatz für eine gläubige Frau auf dem Land.

Mein Urgroßvater überlebt die Gefangenschaft. Am 11. November 1947 wird er aus dem Lager in Nikolajew entlassen. Er kommt zunächst in ein Repatriierungslager in Rumänien und kann dann mit dem Zug nach Österreich weiterreisen. Am 16. November kommt er am Hauptbahnhof in Graz an – gemeinsam mit 144 anderen Steirern. Als Anton an diesem Abend auf den Hof, den er von seinen Schwiegereltern übernommen hat, zurückkehrt, hat sich viel verändert. Sein unmittelbar vor Kriegsbeginn geborener Sohn ist jetzt acht. Seine Frau hat in der Zwischenzeit die Landwirtschaft geführt. Eine Scheune ist abgebrannt und musste neu aufgebaut werden.

Der Abschied

All das, was in den vergangenen acht Jahren passiert ist, fasst mein Urgroßvater in der kurzen Erzählung vom Anfang zusammen: der Szene am Fluss, in der ihm eine verlorengegangene Uniform das Leben rettet. Ansonsten schweigt er. Jahrelang. Neun Monate nach seiner Heimkehr bekommen er und seine Frau eine Tochter – bestimmt eine Hoffnung auf einen Neuanfang. In einem Reisepass aus dem Jahr 1957 sind als besondere Merkmale Narben auf der Nase und im Nacken erwähnt. Womöglich sind sie die sichtbaren Erinnerungen an diese Zeit.

Doch die unsichtbaren Erinnerungen begleiten Anton fast 20 Jahre lang. Was dann passiert, ist in einem Bericht der Staatsanwaltschaft Graz nachzulesen, der im Steirischen Landesarchiv liegt. In wenigen Worten markiert er das Ende einer langen Reise: "Am 19. 4. 1965 entfernte sich der Landwirt Anton Windisch aus seiner Wohnung in xxx, mit dem Bemerken, er werde nie mehr zurückkommen. Er übersandte seiner Frau ein Testament und seine Dokumente samt 500 S. Bargeld. Die Leiche wurde am 9. 5. 1965 beim E-Werk in Gralla geborgen. Der Distriktsarzt Dr. Grabner stellte Tod durch Ertrinken fest. Anzeichen für fremdes Verschulden sind nicht vorhanden." (Michael Windisch, 17.12.2023)