Als Wladimir Iljitsch Uljanow am 21. Jänner 1924 bei Moskau starb, war der Machtkampf um seine Nachfolge schon voll entbrannt. Der Mann, den die Welt bis heute unter seinem kommunistischen Kampfnamen Lenin kennt, hinterließ ein gewaltiges Erbe: die erst zwei Jahre zuvor gegründete Sowjetunion, gezeichnet von einem blutigen Bürgerkrieg, von staatlichem Terror und Hungersnöten mit Millionen Toten. Was Lenin jedoch nicht hinterließ, war eine Regelung für seine Nachfolge an der Spitze der Kommunistischen Partei und damit auch des sowjetischen Staates.

Lenin
Fanatischer Revolutionär, rücksichtsloser Schreibtischtäter: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, in seinem Büro in Moskau.
imago images/Russian Look

In seinem politischen Testament hatte Lenin Ende 1922, ehe ihn Krankheit und Schlaganfälle vollends lähmten, vor einer Spaltung der Partei als größte Gefahr für die Zukunft der Sowjetunion und seine Vision der Weltrevolution gewarnt. In den Konflikten zwischen Stalin und Trotzki sah er das größte Risiko. Seinen potenziellen Nachfolgern stellte er insgesamt keine guten Zeugnisse aus: Stalin sei zu grob, schrieb Lenin, er habe als Generalsekretär der Partei bereits "eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen". In einem Nachtrag forderte er direkt Stalins Ablösung.

Terror als Instrument

Trotzki hingegen wurde als überheblich kritisiert, als zu bürokratisch und intellektuell, um eine Arbeiterpartei zu führen. Auch an anderen mächtigen Genossen ließ Lenin kein gutes Haar – und so darf es nicht verwundern, dass eine offene Auseinandersetzung um Lenins Testament unterdrückt wurde. Stalin sollte sich im Machtkampf mit seinen Genossen bekanntlich brutal durchsetzen und die Sowjetunion in eine totalitäre Diktatur umbauen. Die Grundlagen dafür hatte ihm sein Vorgänger aber selbst geliefert.

Lenin, Stalin
Undatierte Aufnahme von Lenin (links) und Stalin. Am Ende seines Lebens sah Lenin seinen georgischen Genossen als Gefahr, lange war ihm dessen bürokratische Brutalität aber gelegen.
imago images/Everett Collection

Nicht nur war es Lenin gewesen, der Stalin so mächtig hatte werden lassen im bürokratischen Überwachungssystem der Sowjetunion. Der repressive Führerstaat war schon bei Lenin angelegt: Ungeachtet aller Losungen von Freiheit und Gleichheit verstand er das Volk als Masse, die gereinigt, geformt und gelenkt werden müsse. Den Arbeitern und Bauern musste aus Lenins Sicht das Klassenbewusstsein beigebracht, ja aufgezwungen werden – mit Gewalt und Unerbittlichkeit.

Gewaltsam Geschichte machen

Dieser Seite Lenins, die durch einen jahrzehntelangen Verklärungskult durch kommunistische Regime und im historischen Rückblick auch durch das Ausmaß der Verbrechen unter Stalin oft verdeckt wurde, räumt eine neue Biografie der österreichischen Historiker Verena Moritz und Hannes Leidinger gebührenden Platz ein. In Lenin – Die Biografie (Residenz-Verlag) wird der Lenin-Mythos detailreich seziert und akribisch freigelegt, wie diesem Mann das Unwahrscheinliche gelingen konnte: Lenin wurde nur 53, verbrachte Jahre in Haft, Verbannung und Exil – und veränderte gegen Ende seines Lebens die Welt scheinbar plötzlich und für immer.

Verena Moritz, die für das Buch Originalquellen aus russischen Archiven ausgewertet und sich tief in Lenins eigene Schriften hineingegraben hat, attestiert dem russischen Revolutionär einen ungeheuren Fanatismus. "Lenin war wirklich ein Besessener, der manisch auf diese Revolution hingearbeitet und alles darauf ausgerichtet hat. Dabei hat er Gewalt stets als etwas Gestaltendes gesehen, etwas, womit man Geschichte macht", sagt Moritz. Um seinen Werdegang zu verstehen, dürfe man nicht erst bei der sogenannten Oktoberrevolution 1917 einsteigen, dem gewaltsamen Sturz der russischen Regierung durch die von Lenin angeführten Bolschewiki.

Dogmatischer Praktiker

Wladimir Lenin, geboren 1870, stammte aus einer ursprünglich armen Familie, sein Vater hatte es aber weit gebracht: Er war zum Schulinspektor und Direktor aufgestiegen und in den Adelsstand erhoben worden. Prägender als der neue elitäre Familienstatus war für den jungen Wladimir der Werdegang des älteren Bruders Alexander: Der hatte sich einer sozialrevolutionären Gruppe angeschlossen, die einen Mordanschlag auf Zar Alexander III. plante. Das Komplott flog auf, der Bruder wurde verhaftet und 1887 hingerichtet. Für den gerade 17-jährigen Lenin war dieses Ereignis der Beginn seiner intensiven Beschäftigung mit politischen Theorien – und einer schwindelerregenden Radikalisierung.

Alles, was dem Ziel dienen konnte, das verhasste Zarenregime zu stürzen, erschien Lenin legitim. Er hatte nicht vordergründig das Leid der Menschen im verarmten russischen Reich vor Augen, sondern das revolutionäre Potenzial, das sich daraus ergab. So entwickelte sich Lenin zum orthodoxen marxistischen Ideologen, aber gleichzeitig zu einem zielstrebigen Pragmatiker, der durchaus auch von seinem dogmatischen Kurs abweichen konnte, wenn es um Macht ging. Wie Moritz und Leidinger aufzeigen, hatte die gescheiterte erste Russische Revolution von 1905 einen enormen Einfluss auf Lenins späteres Handeln. Diese "Generalprobe" für 1917, wie er sie nannte, verlief äußerst blutig, aus der brutalen Reaktion des Zarenregimes zog er die Lehre, dass Terror und Gewalt als Instrumente für ein Gelingen der Revolution genutzt werden mussten.

"Unbedingt vor den Augen der Bevölkerung"

"Es gibt bei Lenin zwei Ebenen", sagt Leidinger: "Die eine ist die absolute Prinzipientreue in der Frage der Revolution, er will den Umbruch, es muss zu einer völlig neuen Gesellschaft kommen. Die zweite Ebene ist die Gewaltanwendung: Lenin lebt in einem Gewaltraum und potenziert diese Gewalt. Um zum Erfolg zu kommen, ist für ihn noch mehr Gewalt nötig."

So habe Lenin den individuellen Terror abgelehnt, wie ihn die Sozialrevolutionäre praktizierten, zu denen sein Bruder Alexander zählte, sagt der Historiker. "Für Lenin musste der Terror gegen ganze Klassen gerichtet werden, und das bedeutete letztendlich auch die physische Vernichtung von Gesellschaftsgruppen." Zu beseitigen galten Lenin auch alle, die auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft nicht spurten – da müssten eben auch Arbeiter erschossen werden, wie er festhielt.

In dieser Logik schien Lenin der Bürgerkrieg, der nach der Revolution von 1917 entbrannte, sogar als notwendige Bedingung für den Sozialismus, die einen Reinigungsprozess im Inneren ermögliche, sagt Leidinger. Nun verordnete Lenin auch "Quotenterror" , wie er für Stalins spätere Herrschaft typisch war: Er verlangte festgesetzte Zahlen an Hinrichtungen, die "unbedingt vor den Augen der Bevölkerung" durchzuführen seien.

Heiliger Revolutionär

1918 wurde Lenin selbst zum Terroropfer, als er bei einem Attentat durch Schüsse verletzt wurde. In den Folgejahren verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, 1922 und 1923 erlitt er schwere Schlaganfälle und wurde zum Pflegefall. Die Wandlung vom mächtigen Revolutionsführer zur quasireligiösen Ikone begann sich da schon abzuzeichnen. Während Parteifunktionäre Lenin-Zitate paukten, wurden "Lenin-Ecken" in sowjetischen Wohnungen angedacht, als Ersatz für die traditionsreiche russische Heiligenverehrung.

Die Einbalsamierung von Lenins Leichnam nach seinem Tod und die Aufbahrung in einem Mausoleum auf dem Moskauer Roten Platz waren die nächsten Schritte zum Lenin-Kult, den Stalin forcierte und der mancherorts noch bis heute fortlebt.

Leninstatue, Lenin
Leninverehrung passt nicht in die Geschichtspolitik des heutigen Kremlherrschers Putin, die Denkmäler des Revolutionärs werden aber noch in Schuss gehalten – als Zeugnisse des einst mächtigen Sowjetstaats.
IMAGO/ITAR-TASS

Das Bild von Lenin wandelte sich aber im Lauf der Zeit: Wurde er unter Stalin anfangs als unerbittlicher Krieger dargestellt und dann wieder merklich zusammengestutzt, machten ihn andere später zum gütigen Großvater und Menschenfreund. Wladimir Lenins Mumie liegt bis heute im Moskauer Mausoleum, Denkmäler sind noch im ganzen Land zu finden. Dem aktuellen Kreml-Herrscher ist der Namensvetter aber peinlich: Lenin steht für Revolution, Umsturz und Bürgerkrieg, das passt nicht ins Bild des immerstarken russischen Staates, das Wladimir Putin beschwört. Lenins Politik der Selbstbestimmung der Völker schon gar nicht.

Ganz loswerden kann Putin den Revolutionär aber auch nicht. Vor allem unter der Landbevölkerung genießt Lenin noch Ansehen. (David Rennert, 21.1.2024)