New York – Nach dem Absturz eines Transportflugzeugs des russischen Militärs unter rätselhaften Umständen haben sich die Ukraine und Russland vor dem UN-Sicherheitsrat gegenseitig beschuldigt. Es handle sich nach bisherigen Informationen um ein "vorsätzliches, durchdachtes Verbrechen", sagte Russlands stellvertretender UN-Botschafter Dmitri Poljanski bei einer Sitzung des Gremiums am Donnerstag in New York.

Die stellvertretende ukrainische UN-Botschafterin Chrystyna Hajowyschyn wies die Vorwürfe zurück: Die Ukraine sei nicht über Zahl und Art der Transportmittel zum Transport der Gefangenen informiert gewesen, die laut russischer Darstellung bei dem Vorfall ums Leben gekommen sein sollen.

Ein ranghoher russischer Abgeordneter erklärte indes, der ukrainische Geheimdienst habe eine Vorwarnung erhalten, bevor das russische Militärtransportflugzeug mit ukrainischen Kriegsgefangenen an Bord in das Gebiet eingeflogen sei, in dem es am Mittwoch abgeschossen wurde. "Die ukrainische Seite war offiziell gewarnt, und 15 Minuten bevor das Flugzeug in die Zone eindrang, wurde sie vollständig informiert", erklärte Andrej Kartopolow, ein ehemaliger General mit engen Beziehungen zum russischen Verteidigungsministerium, vor Kollegen.

Fragment der Iljuschin Il-76 nach Absturz
Laut russischem Verteidigungsministerium sind alle Menschen an Bord der abgestürzten Iljuschin Il-76 getötet worden.
via REUTERS/RUSSIAN INVESTIGATIV

Weiter keine unabhängig bestätigten Informationen

Seiner Aussage widersprach der ukrainische Militärgeheimdienst: Russland habe nicht über die Flugvorbereitungen informiert. Der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Andrij Jusow, sagte, dass Kiew entgegen der Praxis vor früheren Gefangenenaustauschen keine Aufforderung von Russland erhalten habe, von Angriffen im Luftraum, in dem das Flugzeug abgeschossen wurde, abzusehen. Er stellte Moskaus Version der Ereignisse in Frage. "Es wurden keine Beweise für die Anschuldigungen vorgelegt (...). Es gibt keine Beweise für das Wrack und die Anwesenheit von Menschen an Bord", sagte er am Donnerstag im staatlichen Fernsehen.

Unabhängig bestätigte Informationen dazu, wen oder was die Maschine vom Typ Iljuschin Il-76 transportierte, gibt es bisher nicht. Nach Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums saßen darin 65 ukrainische Kriegsgefangene, die zu einem geplanten Gefangenenaustausch geflogen worden seien. Auch drei Wachmänner und sechs Besatzungsmitglieder seien an Bord gewesen. Moskau wirft der Ukraine vor, die Maschine über dem grenznahen russischen Gebiet Belgorod mit westlichen Flugabwehrraketen abgeschossen zu haben. Alle Menschen an Bord seien getötet worden.

Der Vorfall ereignete sich am Mittwoch – 23 Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats dazu wurde auf Bitten Russlands angesetzt. Zuvor war das Gremium am Donnerstag hinter verschlossenen Türen vom Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation, Rafael Grossi, über die Situation im russisch besetzten Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine informiert worden.

Video: Absturz von russischer Militärmaschine: Moskau beschuldigt Kiew
AFP

Humanitäre Lage sehr ernst

Die humanitäre Lage in der Ukraine ist laut UN-Flüchtlingshilfswerk fast zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs sehr ernst. "Die Luftangriffe treffen jeden Tag die Frontlinie und die Städte. Und mit jedem Schlag bringen sie Zerstörung, die Zivilisten trifft. Viele Menschen verlieren ihr Obdach oder werden vertrieben", sagte UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi in Kiew. Der Leiter des UNHCR hatte eine Woche lang Hilfsprojekte in Odessa, Krywyj Rih, Dnipro, Charkiw und Kiew besucht. Die ukrainische Gesellschaft habe sich seit dem russischen Angriff sehr stark und geeint gezeigt, doch nach zwei Jahren sei die Belastung spürbar. "Diese Brüche werden sichtbar, und das Risiko ist natürlich, dass sie größer werden, wenn die internationale Unterstützung in all ihren Formen kleiner wird", sagte Grandi.

2022 und 2023 sei die Arbeit des UNHCR und anderer Hilfswerke gut finanziert worden, sagte der italienische UN-Diplomat. Doch in diesem Jahr drohten Kürzungen. Der Krieg in der Ukraine habe international an Aufmerksamkeit verloren, der Krieg im Gazastreifen bestimme die Schlagzeilen. Und bei drei Hauptgeldgebern – Deutschland, den USA und der EU – stehe die Höhe der Hilfe für die Ukraine noch nicht fest. (APA, Reuters, red, 26.1.2024)