Es ist eine bizarre Lage, in die Arkadi Wolosch geraten ist. Der Tech-Milliardär ist längst fort aus Wladimir Putins Reich, hat den Angriff auf die Ukraine öffentlich verurteilt und will sein russisches Unternehmen verkaufen – und dennoch steht der Oligarch auf der Sanktionsliste der EU. Für Wolosch gibt es kein Vor und kein Zurück: In Russland gilt er als Abtrünniger, dem das Schlimmste droht; in der EU zählt er als Kreml-Handlanger, der weder einreisen noch Geschäfte machen darf.

Namhafte Russland-Experten, mit denen DER STANDARD und der "Spiegel" sprachen, beschäftigt Woloschs Situation schon länger. "Da bewegt sich die EU auf ganz dünnem Eis", sagt Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. Der Fall zeige die Schwächen des EU-Sanktionsregimes auf: Wenn Russen, die sich von Putin abwenden, nicht mit einer Aufhebung der Sanktionen belohnt werden, könnte das andere davon abhalten, es ihnen gleichzutun. Noch schlimmer: Sie werden dadurch enger an den Kreml gebunden – der eigentliche Zweck der Sanktionen wird konterkariert.

Arkadi Wolosch bei einer Wirtschaftskonferenz in Russland.
Wolosch hat die Suchmaschine Yandex gegründet und zählte zu den wichtigsten IT-Unternehmern Russlands.
AP/Alexander Zemlianichenko

Vorwurf der Propaganda

Mit dem IT-Unternehmen Yandex hat Wolosch in den 90er-Jahren so etwas wie das russische Google gegründet. Die News-Funktion der Seite spielte in den vergangenen Jahren eine wesentliche Rolle dabei, Putins Propaganda ins Internet zu spülen und gezielt zu verbreiten.

Doch hätte sich Wolosch überhaupt dagegen wehren können? Laut Fachleuten ist das zumindest fraglich. Yandex hatte Gewicht – selbst gegenüber dem Kreml. In den Jahren vor der Invasion wurde die Situation in Russland aber immer angespannter. Kritische Berichte wurden auf staatliche Anweisungen gefiltert, staatstreue Medien stärker hervorgehoben.

Nach der Annexion der Krim ist Wolosch nach Israel gezogen. Russland meidet er, nachdem Putins Truppen im Februar 2022 die Ukraine überfallen hatten. Er sei "kategorisch gegen diese barbarische Invasion", ließ der Unternehmer im August 2023 wissen. Er wolle russische IT-Fachkräfte dabei unterstützen, das Land zu verlassen. Putins Sprecher nannte Wolosch daraufhin einen "Verräter". Wolosch versucht derzeit, das Russland-Geschäft von Yandex abzuspalten, ein entsprechender Deal wurde Anfang Februar angekündigt.

Blackbox Sanktionsliste?

Warum die EU Wolosch – anders als das Vereinigte Königreich und die USA – weiterhin sanktioniert, ist unklar. In der Sanktionsverordnung wird er als "führender Geschäftsmann" bezeichnet, dessen Aktivitäten eine "wesentliche Einnahmequelle" für Russland bedeuten. Außerdem unterstütze er die Aggression gegen die Ukraine. Eine detailliertere Begründung ist nicht öffentlich zugänglich.

Über die Liste der sanktionierten Personen entscheiden die EU-Mitgliedsstaaten grundsätzlich einstimmig. Namen schlagen sowohl die EU-Kommission als auch einzelne Staaten vor. Auf wessen Betreiben Wolosch auf die Liste gesetzt wurde, ist bislang nicht bekannt. Gerüchteweise könnte es ein osteuropäisches Land gewesen sein.

Politologe Mangott kann nicht nachvollziehen, warum Wolosch nach wie vor sanktioniert wird. Im Gespräch mit dem STANDARD fragt er mit Blick auf den Unternehmer: "Finanziert er Russlands Krieg mit? Macht er Propaganda für den Kreml? Nein, er kritisiert den Krieg." Mangott nennt Woloschs Abwendung von Russland einen der "ganz wenigen Erfolge der EU-Sanktionspolitik".

Ähnlich sieht das der schwedische Ökonom Anders Åslund, der bereits vor dem Überfall auf die Ukraine für schärfere Sanktionen gegen Russland eingetreten ist. Wenn Wolosch seinen russischen Unternehmensteil abgibt und "nur noch mit Yandex im Westen verbunden bleibt, scheint die gesamte Begründung für die Sanktionierung – wie schwach sie auch immer war – meiner Ansicht nach entfallen zu sein", sagt Åslund dem STANDARD.

Verfahrene Situation

Für Wolosch gibt es zwei Optionen, den Sanktionen zu entkommen: eine erfolgreiche Klage vor dem Europäischen Gericht (EuG) in Luxemburg. Oder der EU-Rat, der die Sanktionsliste laufend evaluiert, streicht ihn aus eigenem Antrieb von der Liste.

Doch Woloschs Kritik an Putins Krieg reicht dafür möglicherweise nicht aus. "Es kann auch jemand sanktioniert sein, der den Krieg zwar ablehnt, dessen geschäftliche Aktivitäten aber eine wesentliche Einnahmequelle für den russischen Staat darstellen, zum Beispiel über Steuereinnahmen", sagt der auf Sanktionen spezialisierte Anwalt Markus Heidinger.

Wolosch könnte sich also vom letzten Argument für seine Sanktionierung befreien, wenn er den Verkauf seiner russischen Yandex-Anteile abschließt. Doch der Deal klappt nur, wenn der Kreml endgültig zustimmt. So bleibt Arkadi Wolosch bis zuletzt abhängig von Wladimir Putin. (Oliver Das Gupta, Jakob Pflügl, 19.2.2024)