Erwin Riess
Festhalten am Erzählen. Und an der Diskussion: Erwin Riess (1957–2023).
Alexander Golser

Vom Glück auf dem Feldherrenhügel – Austria as it is 2023 nach Motiven von Charles Sealsfield ist der Titel des letzten großen Essays von Erwin Riess, erschienen in Die Sichel Nummer 8 / Frühling 2023, nachzulesen auf alte-schmiede.at. (...) Das Heft sollte im Rahmen des Österreich-Schwerpunktes bei der Leipziger Buchmesse präsentiert werden, und als Erwin das druckfertige Manuskript im Jänner 2023 übermittelte, ließ er in einem Nebensatz durchblicken, dass sein Gesundheitszustand eine Reise nach Leipzig (...) vielleicht doch nicht zulassen könnte. Im Februar sagten wir alle geplanten Leipzig-Auftritte ab und vereinbarten einen Präsentationstermin im Rahmen eines Freitagsgesprächs in der Alten Schmiede für April, das dann als Gedenkveranstaltung stattfand.

Im Arbeiterviertel

Erwin Riess wurde 1957 in Wien geboren und wuchs in der Werksiedlung der Hütte Krems auf, wo sein Vater als leitender Ingenieur und die Mutter als Angestellte im Betriebsrat tätig waren. Bereits im Gymnasium zeigte Erwin ein ausgeprägtes Interesse an Literatur und Geschichte und entwickelte fernwehgetrieben ein Faible für Fluss- und Hochseeschifffahrt.

Seine Sozialisation als Mittelschichtsprössling im Kremser Arbeitermilieu beschreibt Erwin Riess in einem Text über Michael Scharang, mit dem ihn eine mehr als dreißigjährige Freundschaft verband: "Michael Scharang war neben dem Böhlerwerk im Kapfenberger Arbeiterviertel Redfeld aufgewachsen, ich neben dem Voest-Alpine-Werk im Arbeiterviertel Lerchenfeld bei Krems. (...) Michael Scharang erzählte davon, wie der Rhythmus des Werkes das Leben der Menschen bestimmt hatte, wie sein Vater nach der Schicht verschwitzt und ölverschmiert nach Hause kam und wie seine Mutter auf dem Herd heißes Wasser vorbereitet hatte, und ich erzählte davon, wie meine Mutter mit dem Abendessen oft bis tief in die Nacht wartete, weil mein Vater sich wegen einer kaputten Maschine verspätet hatte und nach dem Essen gleich wieder ins Werk eilte. Michael erzählte davon, dass der Erlachhammer des Böhlerwerkes den Boden erzittern ließ und tagein, tagaus den Pulsschlag des Werkes bestimmte, und ich erzählte von dem Getöse des Fünfzigtonnenkrans, wenn er im Freilager frisch verzinkte Profilrohre stapelte. (...) Er erzählte davon, wie er in der Werksbücherei Kafka, Musil und Camus entdeckte; ich erzählte, wie ich in der Werksbibliothek Prinz Eisenherz und die nackten Nuba-Frauen der Leni Riefenstahl entdeckte und wie ich vom Arbeiterschachverein wegen notorischer Blödheit ausgeschlossen wurde."

Buchcover
Erwin Riess, "Vom Glück auf dem Feldherrenhügel. Texte aus 40 Jahren". Herausgegeben von Walter Famler. € 32,– / 400 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg 2024
Otto Müller Verlag

Nach der Matura geht Erwin Riss zum Studium nach Wien, im Herbst 1977 wird ihm ein Zimmer im von der SPÖ-nahen Wirtschaftshilfe der Arbeiterstudenten betriebenen Studentenheim Panorama zugewiesen. Der pyramidenförmige Wohnsilo am Donaukanal im 20. Bezirk erweist sich als ideale Heimstatt für den inzwischen marxistisch gebildeten und von revolutionären Impulsen bewegten Studenten der Theater- und Politikwissenschaft, dessen Aktionsdrang auch von ersten Tumoroperationen am Rückenmark nicht zu bremsen ist.

Mit Sylvia Treudl, Gabriele Stöger und Robert Streibel und einigen Trabanten aus dem Umfeld des Instituts für Theaterwissenschaften gründet er die Theatergruppe Perspektive, die in Brecht’scher Manier Theaterstücke auf Basis eigener Texte erarbeitet und in Studenten- und Lehrlingsheimen aufführt. Mit Gleichgesinnten gründet er zudem die Wissenschafts- und Kulturplattform MEL (Marx/Engels/Lenin), die um die von Erwin 1979 initiierte Zeitschrift der streit Diskussions- und Kulturveranstaltungen in Lokalen organisiert.

Ausgehend von einem hektografierten, ungeheftet gefalteten A4-Format erscheint die Zeitschrift ab der Nummer 3 vierteljährlich vierzehn Jahrgänge lang im Kleinformat bei Auflagen von bis zu 3000 Exemplaren. In frühen Ausgaben entwickelt Erwin seine Stamokap-Theorie, die 1984 die Grundlage für seine Dissertation Ökonomische und staatliche Strukturen des österreichischen Kapitalismus im Aufriß bilden.

Die Ferse des Achilles

Von 1984 bis 1994 ist Erwin wissenschaftlicher Referent für behindertengerechtes Bauen im Wirtschaftsministerium und dazu neben seiner Tätigkeit als streit-Herausgeber auch aktiv in der Behindertenbewegung. Als er sich 1994 entschließt, sich beruflich primär der Schriftstellerei zu widmen, entstehen innerhalb von zehn Jahren neun Theaterstücke. 1999 erscheint mit Giordanos Auftrag der erste Roman, fortgesetzt 2006 mit Der letzte Wunsch des Don Pasquale, dem Auftakt zu weiteren sieben Groll-Romanen. Groll, der im Auftrag eines wohltätigen New Yorker Mafiabosses allerhand Welträtsel ermittelnde Rollstuhlfahrer, ist Erwin Riess’ literarische Verkörperung besänftigten Zorns.

In Die Ferse des Achill, seiner 2003 gehaltenen Wiener Karl-Kraus-Vorlesung zur Bedeutung behinderter Menschen für die Gesellschaft, formuliert Riess: "Der Göttergleiche hatte eine menschliche Schwäche. Mensch sein war gleichbedeutend mit verwundbar sein. Menschen unterscheiden sich von Göttern durch eben diese Behinderung. Das Schicksal des Achilles ist bekannt. Er kämpfte vor Troja und starb an einem von Paris geschossenen und von Apollo abgelenkten Pfeil, der die Ferse des Achilles traf.

Neues Prinzip

Homer beschreibt einen frühen Fall von Diskriminierung. Achilles war der Letzte seiner Art. Ein Mohikaner, dessen Stamm sich von der Welt verabschiedet hatte. Mit der Scheidung der Götter von der Menschenwelt zerfiel nicht nur die Einheit von Mensch und Behinderung, es setzte sich auch ein neues gesellschaftliches Prinzip durch, ein Prinzip, welches dem Verstand als Bewegungsform des Geistes den Vorrang erkämpfte." Das Ende der Götterwelt, die Loslösung vom Mythos furchen den Acker der Aufklärung und bereiten den Boden für neue Erzählungen.

Dabei hat das Geschichtenerzählen, so Riess in Die Ferse des Achilles, für Behinderte einen besonderen Stellenwert: "Die mündliche oder schriftliche Weitergabe von Geschichten, die wir erlebt haben, stellt unsere Form der Binnenöffentlichkeit dar. Wie die Pygmäen Zentralafrikas oder die Krieger Papua-Neuguineas, die in Geschichten ihre gesammelten individuellen und kollektiven Erfahrungen tradieren, so ist es auch unter uns die Erzählung, die unseren Erfahrungsschatz verbreitet. Wissend, dass wir in den Medien nur zwischen den Klischees des Mitleid erweckenden Problemwesens oder des Ehrfurcht gebietenden Partisanen wählen können, der zum Frühstück mit dem Rollstuhl die Eiger-Nordwand durchsteigt, halten wir unbeirrt an der Erzählform fest. Zwei Behinderte auf einem Bahnsteig, das sind mehrere Dutzend Geschichten, eine Gruppe von Behinderten ist eine Bibliothek."

Kampf und Wärme

Der kämpferische Autor und Aktivist Erwin Riess war sich seiner Verwundbarkeit bewusst und wusste sie, getragen von seinem unbestechlichen Intellekt, als Schwert für die Anliegen gesellschaftlich Benachteiligter einzusetzen. Er war ein Erster und ein Letzter seiner Art, ein rollstuhlbewehrter Achill und aufklärerischer Mohikaner, der, auch davon zeugt sein schriftstellerisches Werk, über ein hohes Maß an Wärme verfügte. (Walter Famler, 9.3.2024)