Liquid Center
Die Autorinnen des Romans "Wir Kommen".
Stefan Klüter

In einem "Erotikfachgeschäft für Frauen" habe ich mir einen Dildo gekauft, diskret wie ein Lippenstift, rot wie meine lackierten Zehennägel. Die Verkäuferinnen hätten auch in einem Papierwarenladen arbeiten können. Freundlich, neutral, ungeschminkt. Diese Alltäglichkeit nahm mir die Befangenheit. Ich war aber auch in Begleitung einer Freundin, einer Sexualtherapeutin, vom Fach sozusagen, die jedoch seit zehn Jahren keinen Sex mehr mit Männern hat, weil die altersgemäßen sie abstoßen und langweilen. Dafür hat sie eine beachtliche ­Vibratorsammlung. Einmal in der Woche verordnet sie sich einen Orgasmus (oder mehrere, je nach Vibrator) – damit sie nicht vergisst, wie es sich anfühlt. Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich nicht in das Geschäft getraut. Mit den Verkäuferinnen fachsimpelte sie in beeindruckender Weise.

Ich war neunzehn und "unberührt", als Beate Uhse das erste "Fachgeschäft für Ehehygiene" in Deutschland eröffnete. Nie im Leben hätte ich damals ein solches Etablissement betreten. Ich träumte von der Liebe, Masturbation war für mich ein Fremdwort. Manche haben beschlossen, es an ihrem zwölften Geburtstag wieder sein zu lassen, ich habe es erst mit dreißig entdeckt, so repressiv muss meine Erziehung gewesen sein. Es war eine Erleuchtung. Heute kann ich meinen roten Dildo nicht ausprobieren, weil ich nie allein bin. Ich teile das Bett mit einem Mann. Der Dildo liegt auf dem Tischchen neben unserem Ehebett wie eine leuchtende Versuchung. Monate sind vergangen, seit ich ihn gekauft habe, und immer noch habe ich ihn nicht ausprobiert. Warum fährt der Mann nicht mal seine Tochter besuchen?

Ja, natürlich, ich könnte den Vibrator in seiner Anwesenheit einsetzen und das zum Anlass nehmen, endlich mit ihm über Sex zu reden. Aber ich schaffe es nicht. Das Thema ist für uns zum Tabu geworden. Als wir uns kennenlernten, war ich 65, er etwas jünger. Wir hatten eine gute Zeit, inner- und außerhalb des Bettes. Am Nachmittag, nach der ­Siesta, die gemeinsame Ruhe nach der Ent­ladung. Ich war dankbar, noch so spät im ­Leben regelmäßig Sex zu haben.

Das Rein und Raus

Doch seit die Prostata ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, ist es vorbei. Er weinte, als er mir seinen schlappen Schwanz zeigte. Ich versicherte ihm, dass es mir nichts ausmachen würde. Schon früher, als sein Glied noch im Vollbesitz seiner ihm von der Natur zugedachten Funktion war, hatte ich Orgasmen nur durch andere Berührungen. Das Rein und Raus der Pene­tration tat nicht selten weh, im Alter ist die Vagina nicht mehr so glitschig. Für mich wäre es also kaum ein Unterschied gewesen. Auch mit Frauen waren die Hände das Wichtigste. Für ihn jedoch bedeutete der Verlust seiner Potenz das Ende von Sex. Seither entzieht er sich mir. Unsere Beziehung ist zwar zärtlicher geworden, aber dass ich bisweilen das Bedürfnis nach mehr als keuschen Küsschen und Händchenhalten habe, kommt ihm nicht in den Sinn – oder er spricht nicht darüber. Auch ich spreche es nicht an. Ich will ihn nicht verletzen, nicht daran erinnern. Eine unüberwindbare Scheu hat sich zwischen uns geschoben. Ich würde gern wissen, ob er nicht auch manchmal Lust darauf hat, mich zu befriedigen, mir dabei zuzuschauen. Würde ihn das erregen? Kann er jenseits seines Pimmels Lust empfinden? Ich weiß es nicht, er sagt es mir nicht, und ich frage nicht. Nach acht Jahrzehnten Leben sind wir zurückgefallen in ein Schweigen wie zwischen Eltern und Kindern.

Autorinnen Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf
Das Literaturkollektiv Liquid Center, bestehend aus den Autorinnen Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf, will feministischer Fragestellungen in der zeitgenössischen Literatur sichtbar(er) machen.
Stefan Klueter

"Begehren kann er auf jeden Fall", klärte mich eine Freundin auf. "Begehren kommt aus dem Kopf." Seit langem schon rät sie mir zu einem Gespräch; ich soll ihm sagen, dass ich mir ab und zu, wenn er schläft, die Lust heimlich selbst verschaffe, möglichst ­geräuschlos, um ihn nicht zu wecken. Ja, ­natürlich sollte ich das. Aber ich schweige.

Meine Oma kam nur dann zur Ruhe, wenn sie rauchte. Lange, extradünne Zigaretten mit weißem Filter waren das, von denen ich als Kind ab und an die Asche in den Aschen­becher tippen durfte. Nach dem Tod meines Opas, sie war 70, ich Anfang 20, erzählte sie mir eine Zigarettenlänge lang von ihrem Sexleben, das sich bis auf ein, zwei Männer vorher nur innerhalb des Ehelebens abgespielt hatte. Sie hätte gern mehr erlebt und länger Sex gehabt, sagte sie. "Länger?", fragte ich nach. Als sie beide um die 60 waren, habe das aufgehört. Es hätte bei ihm manchmal nicht mehr funktioniert, woraufhin er aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war und ein Bett im Arbeitszimmer aufgestellt hatte. Es habe kein Gespräch darüber gegeben, er habe die Entscheidung über ihren Kopf hinweg getroffen und nie mehr revidiert.

Zu früh abgeschnitten von der Lust

Zehn Jahre später starb er an Prostatakrebs, der ganz sicher für seine Potenzpro­bleme verantwortlich gewesen war. Wäre er damals zum Arzt gegangen, dachte ich oft und auch, dass sein Schweigen und seine Scham über sein vermeintliches Versagen nicht nur ihn das Leben gekostet hatte. Es hatte auch meine Großmutter viel zu früh ­abgeschnitten von ihrer Lust.

Bei mir liegt der Vibrator nicht auf dem Nachttisch, aber ich habe ihn auch demons­trativ angeschafft, den Kauf angekündigt, das Paket vor seinen Augen ausgepackt, ihm das rosa Ding unter die Nase gehalten, ihm immer wieder gesagt: Wenn er nicht will, ich kann auch anders. Ich werde meine Lust leben. Ich sehe ihn vor mir, wie er mich angeschaut hat – ein geprügelter Hund. Er kann doch nichts für seinen schwachen Sexdrive.

Der Vibrator war ein Fehlkauf

Ich habe meinen Freund dazu genötigt, mit mir Pornos zu schauen. Ich wollte unser Sexleben ankurbeln. Oder auf diesem Wege irgendetwas über sein Begehren erfahren, das mir ziemlich rätselhaft war. Er wollte das nicht so richtig, aber ich bestand darauf. Immer abwechselnd wurde entschieden, welchen Clip wir anklicken. Als ich nach wenigen Sessions realisierte, dass er immer nur die Videos mit den ganz jungen Frauen sehen wollte, beendete ich das Experiment.

Im Nachhinein glaube ich nicht, dass ich etwas über sein Begehren erfahren habe. Vielmehr hat er eine passiv-aggressive Art gefunden, sich an mir dafür zu rächen, dass ich ihn zwang, Pornos zu konsumieren. Der erste Vibrator war ein Fehlkauf. Viel zu groß. Es hat sich immer angefühlt, als würde ich mir einen Verkehrspoller einführen. Nach wenigen Einsätzen ist der Vibrator wieder in die Originalverpackung zurück- und diese in die Kiste mit den Elektrogeräten gewandert. Manchmal, wenn ich etwas in der Kiste suche, fällt mir der Knüppel noch in die Hände, und ich bin immer wieder aufs Neue ratlos, was ich mit ihm anfangen soll.

Da lobe ich mir meinen guten alten Deoroller.

Fettstaubsauger. Melkmaschinen. Räumfahrzeuge. Wimpernzangen. Pistenraupen. Hornhautschaber. Raumanzüge. Blasenpflaster. Nockenwellen. Kaltwachsstreifen. Vibratoren. Slipeinlagen. Kettensägen.

Könnte es sein, dass Masturbation trotz aller schrillbunten Sexspielzeuge noch immer als deviant empfunden wird? Als etwas, das entgegen aller Offenheit und Sexpositivität einem Scheitern gleichkommt?

Buchcover
Liquid Center (Hrsg.), "Wir kommen. Kollektivroman". € 25,– / 224 Seiten. Dumont-Verlag, 2024 Das Buch erscheint am 13. März 2024
Dumont Verlag

Wimpernzangen und Blasenpflaster

Masturbieren wird überschätzt, Sex wird überschätzt. Ich lebe ohne und GUT, der Sexdruck ist weg, diese Gerammel-Vibratoren, versteht mich nicht falsch: Ihr macht das, wie ihr wollt, ist mir links rechts und vorbei okay, aber wirklich: Bin ich anders, bin nur ich anders? Es war mir nie sooo wichtig, ich weiß gar nicht: mein erstes Masturbieren? Ich erinnere mich nicht. Hat das überhaupt jemals besonders viel Spaß gemacht (es gibt Besseres), bin ich ne Körpermaschine? Ich konnte mich nie richtig dissoziieren, und jetzt, wo ich älter bin, juhu, macht mein Körper das mit der Befriedigung von selbst: sanfter, welliger, bedrängt mich nicht, ich finde es angenehm, genau, und brauche ich dafür jemanden oder etwas?

Nein, ich steuere das mit dem Kopf, der berühmten IMAGINATION, oh ja, da sind andere mir viel zu nahe und ist mir diese dauernde Sexleistungsbereitschaft und Sexindustrie und all die Leute, die mit dem, was hier aufpoppt, Shop machen, Geld kassieren, abrasieren, waxen statt wachsen – ist mir das so was von bucklig und rutscht, und dann rutscht mir was den Körper als Lächeln entlang und als Nein – ein Nein, zu dem ich endlich den Mut habe.

Nein, ich bin das nicht und brauch das nicht und sage "Imagination", sage "Einklang", sage etwas wie Reale und A-Reale and imagined touch, bevor ich mir das mit einer Maschine mache, mache ich es mir mit dem eigenen Gehirn (eine Innenberührung) oder mit einem anderen Menschen. Darum schien es mir immer zu gehen, von Anfang an, das hat sich nicht geändert, 40 Jahre lang nicht geändert: einen Menschen, derdasdiesievieleeins, egal, einen anderen Menschen berühren / berührt werden: warm, eine Hand, ein Körper, fleischlich, innen UND außen, statt der (industriellen, sexsuggerierten, heimlich-leisterischen) Übertölpelung meiner selbst.

I want a brainchild from you.