Friederike Mayröcker
Friederike Mayröcker in ihrem Arbeitszimmer.
TECHT Hans Klaus / APA / picture

William Burroughs schrieb in einem fensterlosen Bunker in der Lower East Side in New York; der Lyriker John Giorno, sein Nachbar, konservierte bis zu seinem eigenen Tod 2019 den Wohnzustand der Jahre 1975 bis 1982 sorgsam. William Faulkner schrieb Als ich im Sterben lag während Nachtschichten in einem Kraftwerk, Tom Wolfe The Electric Kool-Aid Test, sein Buch über Ken Kesey und die Merry Pranksters, mit denen er herumreiste, im Bus der Pranksters quasi unter deren Augen.

Drehbarer Schuppen

Der Oscar-prämierte Drehbuchautor Dalton Trumbo schrieb am liebsten nachts in der Badewanne, dabei mit im Raum der Papagei, den ihm Kirk Douglas geschenkt hatte, für den Trumbo das Skript für Spartacus zu Papier gebracht hatte. Edward Gorey, der neo-pseudo-spätviktorianische Zeichner, bewohnte ein Haus, das seinen Zeichnungen entsprach – war es doch durch und durch pseudo-spätviktorianisch. Und George Bernard Shaw arbeitete in seinem kleinen Holzhäuschen, The Shed, der Schuppen, genannt, das drehbar war und von ihm somit nach dem jeweiligen Stand der Sonne auszurichten.

Aber auch die fiktiven Lokalitäten der Literatur sind pittoresk bis bizarr, von Mark Z. Danielewskis The House über Hans Henny Jahnns Ugrino-Palast bis zu Clive Barkers Weaveworld, Alan Moores Jerusalem, Philip Pullmans Cittàgazze bis zu Alan Campbell, der in Scar Night: Die Kettenwelt-Chroniken die Stadt Deepgate schildert, die an immens dicken Ketten über einem riesigen Loch schwebt.

Schreiborte sind Schaffensorte. Diese wiederum sind Bilder, manche einprägsam, andere ikonisch, dritte fiktional stilisiert. Gerhard R. Kaiser, der bis 2008 35 Jahre lang in Gießen und Jena deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft lehrte und 2017 ein schönes Paris-Lesebuch edierte, beugt sich über ausgewählte imaginäre Schreiborte, bei denen Leben mit Literatur fusionierte.

Buchcover Gerhard R. Kaiser
Gerhard R. Kaiser, "Keller – Mansarde – Einsiedelei. Imaginäre Orte des Dichtens. Auch eine Literaturgeschichte". € 35,95 / 352 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024
Wallstein Verlag

Wohltuend verständlich

Für einen langgedienten Hochschulgermanisten schreibt er angenehm, ja wohltuend verständlich. Grobschlächtig arkanen Jargons entschlägt er sich größtenteils, wissenschaftliche Exaktheit kommt er mit nicht wenigen Fußnoten und gelehrten Nachweisen nach.

Kaiser beginnt mit Jean-Jacques Rousseau und Jean Paul, worauf Hölderlin, Heine, Gottfried Keller, Baudelaire, Flaubert und Nietzsche folgen. Mit Hofmannsthals Treppenwinkel setzt das 20. Jahrhundert ein, das durch Keller (Franz Kafka), Schimmelzimmer (Robert Walser), Elfenbeinturm (Marcel Proust) und Haus mit vier Türen (Bertolt Brecht) zu Sartres "cella" (ein Kapitel, in dem das Grundthema ignoriert wird) führt. Alles mündet in Thomas Bernhards Sterbezimmer.

Bedauerlich, dass Kaiser nicht noch Friederike Mayröckers Schreibbehausung, in der sich die Poesie buchstäblich türmte, für ein essayistisches Kapitel in Betracht zog oder deren Konterpart, die Denk-Konstruktion des rigiden Schweizers Ludwig Hohl, der in seiner winzigen Genfer Wohnung Schnüre querzog, auf denen er seine Manuskriptblätter so aufhängte, als müssten sie trocknen.

Gewitzte Atmosphäre

Gewitzt und erhellend zitiert Kaiser teils ungewöhnlich ausgreifend. Das erzeugt dichte Atmosphäre und leuchtet klug die unterschiedlichen Milieus und Environments recht plastisch aus, Rousseaus Einsamkeit in einem Lazarett während eines Pestausbruchs, Heine, gelähmt, fast blind, aber mit geschärftem Verstand, in seinen letzten acht Lebensjahren in seiner "Matratzengruft", Brecht, der sich ein Haus ersehnte, aus dem schnell zu fliehen sei, und der nach eigener Flucht dichtete: "Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: / Mehr als mein Haus brauchte ich die Wahrheit. / Aber ich brauche auch mein Haus. Und seitdem / Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen. / Und man hat sie genommen."

In Thomas Bernhards Beton von 1982 geht Rudolf, der jahrelang über einer Studie über Felix Mendelssohn brütet, ohne bisher eine Zeile geschrieben zu haben, in den ersten Stock des Hauses und betrachtet seinen Kreativort, buchstäblich ein "writer’s block", aus acht, neun Metern Entfernung: "Ich beobachtete den Schreibtisch so lange, bis ich mich selbst an meinem Schreibtisch sozusagen von hinten sah, ich sah, wie ich mich, meiner Krankheit entsprechend, vorbeugte, um zu schreiben." Oder um an diesem imaginären Ort imaginär zu schreiben. "Dann war das Bild weg, ich saß nicht mehr an meinem Schreibtisch, der Schreibtisch war leer, das Blatt Papier darauf war genauso leer." (Alexander Kluy, 16.3.2024)