"Jedes Kind, das freiwillig zum Buch greift, kann in Geschichten eintauchen, seinen Wortschatz erweitern, seine Konzentration verbessern, Durchhaltevermögen lernen", sagt Lydia Grünzweig vom Buchklub: "Lauter Eigenschaften, die man auch sonst gut brauchen kann."
IMAGO/Zoonar

"Who’s still reading?", fragt dieses Jahr in poppiger Schrift die am Donnerstag startende Leipziger Buchmesse. Und man weiß nicht, ob die quietschige Typografie mehr eine Sorge überjohlen soll oder ob sie sich an ein junges Lesepublikum heranschäkern will. Denn der Bereich Kinder- und Jugendliteratur ist derzeit der dynamischste der ganzen Branche: Zwischen "book bans" an US-Schulen und Kulturkämpfen über potenziell verletzende, stereotype und inkorrekte Begriffe auf der einen Seite sowie der riesigen, die bisherigen Spielregeln von Marktzugang und Marketing über den Haufen werfenden Verkaufsmaschine #Booktok und dem neuen Kassenschlagergenre "Young Adult" auf der anderen Seite.

Und während zahlreiche Statistiken nahelegen, dass Jugendliche immer schlechter und weniger lesen, investieren an sich auf Sparprogramme schielende Verlage in den Ausbau ihrer Jugendbuchschienen. Penguin Random House erwarb etwa mit Anfang Februar den Münchner Kinderbuchverlag Tulipan. Wie passt all das zusammen? Who's nun wirklich still reading?

Hoher Stellenwert von Büchern

Nachfrage bei Lydia Grünzweig, Geschäftsführerin des Buchklubs der Jugend. Der Verein ist laut eigenen Angaben Österreichs "größte Non-Profit-Organisation zur Leseförderung" und eine "Servicestelle für Lesepädagogik mit über 70 Jahren Erfahrung". Mit ehrenamtlichen Mitarbeitern geht man in Schulen, stellt Materialien für Lehrpersonal bereit, gibt Magazine heraus, die neugierig aufs Lesen machen sollen. In dieser Arbeit bestätige sich der nach wie vor hohe Stellenwert von Büchern und Geschichten in der Freizeit von Kindern, sagt Grünzweig.

Für Österreich gibt es keine detaillierten Erhebungen zum Leseverhalten junger Menschen. In Deutschland fragen seit 25 Jahren die Studienreihen KIM (Kindheit, Internet, Medien) und JIM (Jugend, Information, Medien) alljährlich das Mediennutzungsverhalten der Altersgruppen sechs bis 13 Jahre und zwölf bis 19 Jahre ab. Auf die beruft sich hierzulande neben dem Buchklub auch das Institut für Jugendliteratur.

Kinder lesen mehr als Jugendliche

Kumuliert lässt sich für 2023 sagen, dass der Anteil der täglich oder mindestens einmal die Woche Lesenden mit dem Alter sinkt: von 52 Prozent bei den Kindern auf 35 Prozent bei den jungen Erwachsenen. Dabei lasen mehr Mädchen (42 Prozent) als Buben (27 Prozent) zumindest einmal in der Woche. Gymnasiasten lasen mehr als andere Schüler. Wen das kulturpessimistisch stimmt: Die JIM-Studie ist es nicht. Sie sieht eine angesichts aller Klagen erstaunliche Kontinuität in der Büchernutzung. In der ersten Studie 1998 hatten auch "nur" 38 Prozent der Befragten über zwölf Jahren angegeben, täglich oder mehrmals die Woche zum Buch zu greifen.

Immerhin Rückschlüsse für Österreich kann man aus dem Buchmarkt ziehen. 20,3 Prozent betrug der Anteil der Kinder- und Jugendbücher voriges Jahr an dessen Gesamtumsatz hierzulande. Das ist nach der Belletristik (32,9 Prozent) und vor Ratgebern (18,9 Prozent) das größte Stück vom Kuchen. Gegenüber 2022 legte das Segment zwei Prozent zu. So weit, so gut. Doch stieg zugleich der Preis für einen durchschnittlichen Titel um 5,7 Prozent auf 11,74 Euro. Hinkt der Umsatzzuwachs der Preisentwicklung hinterher, bedeutet das einen Rückgang verkaufter Exemplare.

Lesehindernisse

In Großbritannien ergab indes im Februar eine Studie, dass weniger als die Hälfte der britischen Kinder in ihrer Freizeit gerne lesen – das niedrigste Niveau seit 20 Jahren. Anfang März publizierte die Organisation "World Book Day" eine Erhebung unter 1.000 britischen Befragten zwischen sieben und 14 Jahren zu ihren Lesegewohnheiten, -wünschen und -hindernissen. Nur ein Viertel der Kinder berichtete dabei von Eltern, die auch selbst mal ein Buch zur Hand nehmen, um sich zu entspannen. Am Smartphone (56 Prozent) und vor dem Fernseher (52 Prozent) hängen sie öfter. Man kann also versuchen, Kinder zu erziehen, aber sie machen den Eltern doch alles nach.

Ein Viertel der Kinder beschwerte sich zudem, dass sie wegen Eltern und Lehrern Bücher lesen sollen, von denen sie sich nicht angesprochen fühlen. Auch wenn Kinder sich wegen ihrer Lesefähigkeit (15 Prozent) oder Lektüreauswahl (20 Prozent) verurteilt fühlen, hält sie das vom Lesen ab. Das trifft sich mit Grünzweigs Erfahrungen. "Wird in einem Haushalt gelesen, wird der Besuch der Bibliothek oder von Buchhandlungen ermöglicht, und dürfen die Kinder Bücher selbst auswählen, beeinflusst das ihre Lesebiografie positiv." Man darf nämlich nicht vergessen: Lesenlernen ist harte Arbeit." Daneben seien Vorlesen und der Austausch über ein Buch wichtig für ein "gutes Gefühl". Ein Viertel der Kinder gab in Großbritannien etwa an, sie läsen am liebsten, wenn man nachher mit Familie oder Freunden darüber reden könne.

Gegenläufige Trends

All das zusammenzufassen ist schwer. In den vorliegenden Zahlen fallen viele gegenläufige Trends zusammen. Phänomene wie "Harry Potter" oder #Booktok können Verkaufsstatistiken herumreißen und im Trend sinkende Leserkurven wieder ansteigen lassen – sie erreichen aber nicht alle. Weniger Kinder und Jugendliche lesen konsequent, die, die noch regelmäßig zum Buch greifen, tun das aufgrund von Social-Media-Hypes aber viel öfter.

Die Vorteile sprächen dafür. "Jedes Kind, das freiwillig zum Buch greift, kann in Geschichten eintauchen, seinen Wortschatz erweitern, seine Konzentration verbessern, Durchhaltevermögen lernen", sagt Grünzweig. "Und natürlich spaßige Augenblicke erleben, die helfen, den Alltag gut verarbeiten zu können. Lauter Eigenschaften, die man auch sonst gut brauchen kann." (Michael Wurmitzer, 21.3.2024)