EU-Gastgeber Charles Michel läutete am Donnerstag gemeinsam mit Uno-Generalsekretär António Guterres den Frühlingsgipfel der 27 EU-Staats- und Regierungschefs ein.
EU-Gastgeber Charles Michel läutete am Donnerstaggemeinsam mit Uno-Generalsekretär António Guterres den Frühlingsgipfel der 27 EU-Staats- und Regierungschefs ein.
EPA/OLIVIER HOSLET

Die Europäische Union will in die stagnierenden Beitrittsprozesse und -verhandlungen mehr Dynamik bringen. Anlass dafür ist der steigende Druck durch den Krieg in der Ukraine. Die Union hat sich darauf festgelegt, dass die Aufnahme neuer Mitglieder auf dem Balkan wie in der Schwarzmeer­region von höchstem strategischem Interesse sei. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben am Donnerstag in Brüssel offiziell die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Bosnien-Herzegowina beschlossen. Das teilte EU-Ratspräsident Charles Michel auf der Onlineplattform X mit. "Euer Platz ist in der europäischen Familie", schrieb Michel.

"Die heutige Entscheidung ist ein bedeutsamer Schritt auf eurem Weg in die EU. Nun muss die harte Arbeit fortgesetzt werden, damit Bosnien-Herzegowina laufend weiterkommt, wie euer Volk es will". Die EU-Kommission wird vom Gipfel aufgefordert, einen Verhandlungsrahmen vorzulegen. Dieser könne vom Rat beschlossen werden, sobald Bosnien alle von der EU-Kommission geforderten Reformschritte abgearbeitet habe. Für den Beschluss ist wieder Einstimmigkeit im EU-Rat erforderlich.

Österreich, in Brüssel durch Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) vertreten, gehört zu den stärksten Befürwortern einer schnelleren EU-Integration Bosniens. Einige EU-Staaten hatten im Vorfeld aber Bedenken angemeldet, weil das Land noch nicht alle geforderten Reformen umgesetzt hat.

Eingefrorene Vermögen für Waffenkäufe

Auch der Ukrainekrieg war eines der Kernthemen des EU-Gipfels Donnerstag und Freitag in Brüssel. Generell standen bei den Beratungen der 27 Staats- und Regierungschefs wieder die Lage in der Ukraine und die Notwendigkeit finanzieller und militärischer Hilfe im Zentrum.

Auf Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sollen die Gewinne aus eingefrorenen russischen Vermögen für Waffen- und Munitionskäufe zur Verteidigung der Ukraine verwendet werden können. Borrell hatte am Mittwoch vorgeschlagen, dass die EU 90 Prozent der Zinsgewinne eingefrorener russischer Vermögensgüter für den Kauf von Waffen für die Ukraine über die Europäische Friedensfazilität verwende. Zehn Prozent sollten in den Wiederaufbau der Ukraine und in die Stärkung der Kapazitäten der ukrainischen Verteidigungsindustrie fließen. Die Ukraine soll auch von einer EU-Verteidigungsstrategie profitieren, die unter anderem mehr gemeinsame Militäreinkäufe vorschlägt.

Die EU-Kommission will außerdem Einfuhren von russischem Getreide mit höheren Zöllen belegen. Die Behörde habe einen entsprechenden Vorschlag vorbereitet, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am späten Donnerstagabend. Er würde neben Getreide auch weitere Agrarprodukte aus Russland und Belarus treffen.
Zudem soll laut von der Leyen verhindert werden, dass aus der Ukraine gestohlenes Getreide in die EU verkauft wird. Russisches Getreide dürfe nicht den EU-Markt destabilisieren, und Russland dürfe keinen Nutzen aus dem Export dieser Waren ziehen.

Beim Treffen im vergangenen Dezember hatten die EU-Chefs der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines EU-Beitrittskandidaten beziehungsweise Georgien eine "Beitrittsperspektive" gegeben. Seither drängen die baltischen Staaten und Polen darauf, mit der Regierung in Kiew so rasch wie möglich konkrete Verhandlungen aufzunehmen.

Hilfen durch Orbán torpediert

Von diesem Start, den Ungarn bisher ablehnt, sind die Ukraine wie Moldau ein gutes Stück entfernt, obwohl die EU-Kommission ihnen ausreichend Reformfortschritte zugesprochen hat. Diese privilegierte Behandlung der Ukraine hat gab Anlass, auch die Integration der Westbalkanstaaten nicht schleifen zu lassen. Sie träumen seit 20 Jahren vom EU-Beitritt. Bis zuletzt war Bosnien-Herzegowina ein Sorgenkind im Vergleich mit anderen Kandidatenländern wie Montenegro oder Nordmazedonien.

Ziel ist es, auch die Ukraine noch vor dem Sommer in einen Verhandlungsprozess zu bringen. Das brächte mehr Möglichkeiten der Unterstützung aus EU-Mitteln und einer teilweisen Integration noch vor einem formellen Beitritt. Grund: Ab 1. Juli übernimmt Ungarn den EU-Vorsitz. Ministerpräsident Viktor Orbán torpediert Hilfen für die Ukraine und Beitrittsbemühungen. Bis Jahresende ginge nichts mehr.

Mehr Hilfe für Ukraine

Da im Juni die EU-Wahlen stattfinden, bleibt ohnehin wenig Raum für größere politische Vorhaben. Die EU muss auch selbst umfangreiche interne Reformen in die Wege leiten, um erweiterungsfähig zu sein.

Die Europawahlen im Juni werfen auch einen Schatten auf die Hilfen für die Ukraine. Da sich erst im Juli das Europäische Parlament neu konstituiert und auch EU-Kommission neu besetzt werden muss, wird die Union für einige Monate bedingt handlungsfähig sein. Im Juli wird sich entscheiden müssen, ob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von den Regierungschefs für eine zweite Amtszeit nominiert wird, was Kontinuität im Krisenmanagement sichern würde.

Bei einem EU-Gipfel Mitte Juni wird ein größeres "Personalpaket" geschnürt: Auch die Posten des EU-Außenbeauftragten, des Ständigen Ratspräsidenten und andere werden dann neu besetzt. Im EU-Parlament werden die Fachausschüsse neu zusammengesetzt.

Nicht zuletzt aus diesem Grund versuchten die Regierungschefs am Donnerstag, konkrete Entscheidungen auf den Weg zu bringen, die dann legistisch umgesetzt werden müssen. Grundsätzlich war es bei allen unbestritten, dass die EU und die Mitgliedsstaaten die Anstrengungen für militärische Aufrüstung zur eigenen Sicherheit verstärken müssen.

Sofortige humanitäre Waffenruhe

Ein weiteres Streitthema ist der Krieg in Gaza. Der Gipfel hatte mit einem Besuch von UN-Generalsekretär António Guterres begonnen. Er rief dazu auf, sich für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza einzusetzen. Dies stehe nicht in Widerspruch zur Verurteilung der Hamas. Der Ständige Ratspräsident Charles Michel hatte eine Erklärung zur Lage in Nahost vorbereitet, in der das auch gefordert wurde. Darin ist die Rede von einer "sofortigen humanitären Waffenruhe, die zu einem dauerhaften Waffenstillstand" führen soll. Auf diese Formulierung haben sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in Brüssel geeinigt.

Ein vollständiger und sicherer humanitärer Zugang nach Gaza sei unerlässlich, um der Zivilbevölkerung in der katastrophalen Situation in Gaza lebensrettende Hilfe zu leisten. Die Hamas und "andere bewaffnete Gruppen" müssten "sofort einen humanitären Zugang zu den verbleibenden Geiseln" ermöglichen, was Österreich explizit gefordert hatte. Die EU-Staatschefs rufen Israel auf, von einer Bodenoffensive in Rafah abzusehen, die "die bereits katastrophale humanitäre Situation verschlimmern" und die Bereitstellung von humanitären Hilfsleistungen "verhindern" würde.

Streit zur Rolle der Hamas

Allerdings war der Text umstritten. Mehreren Staaten, dar­unter Österreich, fehlten explizite Verurteilungen der Verbrechen der Hamas, nicht nur des Anschlags vom 7. Oktober. Kanzler Nehammer erklärte, er könne der Erklärung nur zustimmen, wenn es auch eine Verurteilung gezielter systematischer Vergewaltigungen durch Hamas-Mitglieder gibt. Auch die Mittäterschaft von UNRWA-Mitarbeitern bei den Terrorakten müsse verurteilt werden.

Es wird allerdings auch auf Berichte der Uno-Sonderberichterstatterin Reem Alsalem verwiesen. Sie war unter anderem an einem Bericht beteiligt, in dem sexuelle Gewalt israelischer Soldaten gegen palästinensische Frauen beklagt wird.

Seit einer dünnen Erklärung im Oktober haben es die EU-Chefs nicht geschafft, ein umfangreiches gemeinsames Papier zu Nahost zu formulieren. Bis in die Nacht wurde darüber gestritten, die Hamas als Auslöser des Krieges wurde ausgespart. (Thomas Mayer aus Brüssel, red, APA, 21.3.2024)