Deniz Ohde meidet in ihrem Roman plakative Parolen.
SV / Börge Meyn

Der Roman beginnt mit einer Leerstelle, nämlich mit der Beschreibung einer Brache, die auf das Ende des Buchs verweist. "Lässt sich an einem Streifen Erde ablesen, was geschehen ist?", fragt die Erzählstimme. Aus dem Boden der Baulücke sprießen neue Pflanzen. Doch ob und auf welche Weise die Disteln für einen Neubeginn stehen, ist nicht erkennbar.

Wie schon in ihrem literarischen Debüt Streulicht überzeugt die 1988 in Frankfurt am Main geborene Schriftstellerin Deniz Ohde auch in ihrem zweiten Prosawerk Ich stelle mich schlafend schon auf der ersten Seite mit starken Bildern, die sich leitmotivisch durch den Text ziehen. Sanft und kraftvoll zugleich ist der literarische Tonfall, in dem die Geschichte einer misogynen Gewalttat erzählt wird.

Yasemin wächst in der Sozialsiedlung einer nicht näher benannten Stadt auf. Die Eltern haben sich wenig zu sagen, bleiben aber als lieblose Funktionseinheit bestehen. "Yasemin war aus einem gebrochenen Willen gezeugt worden", erklärt die auktoriale Erzählerin. Bruchstückhaft wird die Geschichte des Paars erzählt: Die Mutter war in einem entscheidenden Moment zu betrunken, der Vater zu triebgesteuert gewesen. Das Kind wird trotz aller Versuche der Eltern, im Alltag zu bestehen, ein Mahnmal des Übergriffs bleiben – jedenfalls wird sie sich selbst so wahrnehmen. Die Folge ist eine stupende Kälte in der Familie. So lässt sich Yasemins Sehnsucht nach Zuneigung begreifen. Aber reicht die kindliche Prägung für den Abgrund, an dem Yasemin als Erwachsene stehen wird?

Als 13-Jährige findet sie in der Nachbarschaft einen Jungen, der ihre Wünsche vorübergehend erfüllt. Das Ende der jugendlichen Schwärmerei aber kann symbolträchtiger nicht sein: Yasemin fällt vom Pferd, die Wirbelsäule gerät in eine Fehlstellung, die Skoliose muss erst in einem Reha-Zentrum und dann über Jahre hinweg mit einem Korsett behandelt werden.

Neues Lebensgefühl

Die orthopädische Korrektur führt bei dem Mädchen zu einem neuen Körpergefühl, das sie von Vito entfremdet. Der Bruch scheint für den Jungen traumatisch; Vito gerät aus Yasemins Blickfeld. Sie möchte ein normales Leben führen und beginnt eine Ausbildung in der Buchhaltung eines Kaufhauses.

Das geregelte Leben ist der jungen Frau aber keineswegs geheuer. Sie sucht weiterhin das Glück und den Spaß, von dem ihre Freundinnen sprechen. Vor allem ihr Beziehungsleben wird zu einem Feld der krisenhaften Selbstfindung. Yasemin fertigt Listen mit Liebhabern an, zugleich hadert sie mit Scham- und Schuldgefühlen. Yasemins christliche Prägung schlägt durch, die inneren Monologe sind nun zunehmend von mystisch-katholischer Bildsprache geprägt.

Da kommt der etwas brave Hermann gerade recht, selbst wenn sie seiner Zärtlichkeit zunächst "ratlos" gegenübersteht. Yasemin begreift sich im Geschlechterkampf zwischenzeitlich als eine Art säkulare Nonne und die Partnerschaft als imaginäres Kloster, in dem auch körperliche Erlösungsfantasien befriedigt werden können: "Yasemin glaubte, dass ihr Mund gereinigt sei, weil er seit zehn Jahren von niemand anderem als Hermann geküsst worden war."

Nicht nur Bibelkundige wissen: Versuchungen wird es immer geben. In diesem Fall taucht nach 20 Jahren Vito wieder auf. So bedrohlich der Mann "mit Schraubstockhänden" nicht nur für ihr inneres Gleichgewicht zu sein scheint, Yasemin besucht ihn trotzdem in seiner heruntergekommenen Wohnung. Am liebsten würde man sie schütteln und zu Hermann zurückschicken, aber man folgt ihr gebannt auf die dunkle Seite der Liebe.

Deniz Ohde, "Ich stelle mich schlafend". Roman. € 25,70 / 248 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2024
Suhrkamp

Seelische Zerstörung

Die Wortwahl wird gegen Schluss immer drastischer: "Body Count – killed or fucked." Ein böser Begriff, unter dem nicht nur die Anzahl körperlicher Berührungen, sondern auch eine Todesrate subsumiert wird. Das Grauen, das Ohde schildert, besteht auch darin, dass es völlig unerheblich ist, wie eine Frau sich ihrem Peiniger nähert. Yasemins Freundin Immaculata ist per Anhalter gereist und in den falschen Lastwagen eingestiegen. Yasemin hat sich vielleicht wie eine Liebessüchtige verhalten, aber was auch immer sie angetrieben hat, eine Rechtfertigung für eine Gewalttat gibt es nie. Besonders bitter die Erkenntnis, dass selbst der gescheiterte Versuch eines Femizids seelische Zerstörung zur Folge hat.

Später wird Yasemin versuchen, sich Vorwürfe vom Leib zu halten, die Männergewalt rechtfertigen und die nicht zuletzt in unsozialen Medien geäußert werden, indem sie solche Sätze vorbetet: "Sie hat ihn aber angerufen. Sie hat aber auch ihren langjährigen Partner für ihn verlassen. Sie hat ihn aber freiwillig geküsst. Sie hat sich aber von ihm berühren lassen." Aber, aber, aber. In diesem winzigen Wörtchen steckt die Verachtung. Doch kein "aber" rechtfertigt den Angriff auf Leib und Leben.

Ich stelle mich schlafend ist ein bestürzend aktuelles Buch, das keine plakativen Thesen formuliert oder Parolen liefert. Deniz Ohde entwickelt mit ihrer Literatur vielmehr eine Ästhetik der existenziellen Widersprüche. (Carsten Otte, 24.3.2024)