"Jeder Satz spricht, deute mich, und keiner will es dulden". Theodor W. Adorno

Er ist ein glänzender Stilist, der Literaturwissenschafter, Philosoph und Bestsellerautor Rüdiger Safranski, der schon viele interessante neue Blicke auf Heroen der deutschen Geistesgeschichte geworfen hat, von Schopenhauer über Nietzsche, Goethe und Schiller und beide zusammen im Bild ihrer Freundschaft bis zu Hölderlin und E. T. A. Hoffmann. Seine Untersuchung über die deutsche Romantik ist zu einem Standardwerk geworden. Daneben hat er auch über Das Böse undDas Drama der Freiheit, über Heidegger und seine Zeit sowie die Zeit als solche und was sie mit uns macht und was wir mit ihr machen, nachgedacht. Im überall präsenten Kafka-Jahr zum 100. Todestag des Dichters am 3. Juni legt auch Safranski eine Untersuchung vor – mit dem passgenauen Titel Um sein Leben schreiben.

Kafka, der Jahrhundertautor, ist eine Art Seismograf der Moderne, der überwältigende Bilder für eine labyrinthische Wirklichkeit gefunden hat. Seine makellose Prosa, die die Abgründe des 20. Jahrhunderts spiegelt, droht unter den zahllosen Deutungen selbst zu verschwinden. Er, der zu Lebzeiten nur Insidern bekannt war, hat Generationen von Interpreten beschäftigt und genährt, einen Generalschlüssel für sein Werk hat keiner gefunden. Sein wichtigster Biograf nach Klaus Wagenbach, Reiner Stach, hat ihm fast das ganze Leben gewidmet, in drei umfangreichen Bänden alles ausgeleuchtet, überprüft und eingeordnet. Zuletzt hat er an der Verfilmung einer Kafka-Biografie fürs Fernsehen mitgearbeitet, die im ORF am 24. und 25. März ausgestrahlt wird.

Was kann Rüdiger Safranski all dem noch hinzufügen? Ausgangspunkt seiner Untersuchung wird ihm ein Zitat aus einem Brief Kafkas an dessen Dauerverlobte Felice: "Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein." Diese Spur, das Schreiben selbst und Kafkas Kampf darum verfolgt Safranski als einzige Spur im Leben Franz Kafkas und sieht seinem Autor, der sein Leben selbst als "stehendes Marschieren" bezeichnet hat, beim Schreiben über die Schulter.

Alles, was nicht der Darstellung "seines inneren traumhaften Lebens" dient, langweilt ihn, ödet ihn an. Er wird zum Vermeidungskünstler in einer Welt des ewigen Aufschubs, zum Bräutigam, der am liebsten Junggeselle bliebe und auch bleibt, zu einem, den der "Lebensfluss" niemals ergreift. Der Junggeselle wird bei Kafka zu einer "Zentralfigur des Scheiterns", eine wichtige Erzählung trägt den Titel Das Unglück des Junggesellen.

Lust, Schuld und Strafe zugleich

Es gab bei Kafka starke Liebesgefühle mit Scheu vor dem Sexuellen, und es gab bei ihm sexuelles Begehren ganz ohne Verliebtheit, schreibt Safranski. Ekstase allerdings kennt er nur beim Schreiben. Dennoch gibt er den Brotberuf in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt nicht auf, da er wie sein Vorbild Flaubert zwar für die Literatur leben will, aber nicht von ihr. Trotzdem klagt er natürlich ständig über das "schreckliche Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt". Aber vielleicht bewahrt ihn gerade die Arbeit im Büro vor dem Irrsinn.

Schreiben ist ihm "gesteigertes Leben", nur wenn der "Schreibfluss" sich seinen Weg bahnt, ist er bei sich in seinem inneren Asyl. Es gibt bei ihm kein Konzept, keine Gliederung, kein Exposé. Ohne Schreiben ist er ein Nichts, er wird schuldig, wenn er "in die Tiefe seines Schreibens" abtaucht. Es gibt bei Kafka eine Schuld, "die allem, was er schreibt, vorgelagert ist: Es ist das Schreiben selbst. Das Schreiben ist die Schuld. Im Schreiben wird er schuldig gegenüber dem Leben", es ist Lust, Schuld und Strafe zugleich.

"Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben", wird er bilanzieren. Zeitlebens verbindet er die Vorstellung gelingenden Schreibens auch mit der Fantasie eines hermetisch abgeschotteten Schreibortes bis hin zur Selbsteinkerkerung. Am liebsten wäre er im "innersten Raume eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers" nur mit Schreibzeug und einer Lampe. "Das Essen brächte man mir, stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten Tür des Kellers nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang (…). Was ich dann schreiben würde!" In dieser kafkaesken Welt, möchte man hinzufügen, einer ins Groteske gesteigerten Abwehr gegenüber dem Wunsch der Verlobten, beim nächtlichen Schreiben an seiner Seite zu sein.

Auch in der Liebe setzt er auf die Schrift: "Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann?", fragt er Milena, die Frau, die ihm wohl am nächsten kam, die ihm ebenbürtig war, die ihn wohl am besten verstanden hat. Das "leere Gesicht" der ewigen Verlobten Felice wird er dann mit seinen Schriftzügen bedecken, sie bleibt eine Schriftgeliebte, er bleibt der sich selbst genügende Held des nächtlichen Schreibens, dem die Nacht noch "zu wenig Nacht" ist. Schreiben erhält neben der rein körperlichen Dimension der Lust auch eine spirituelle, wird ihm zu einer "Form des Gebets".

"Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben", so bilanziert Franz Kafka selbst sein kurzes Leben.
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Leid an patriarchalen Strukturen

Besonders deutlich wird das, nachdem ihm 1912 in einer einzigen Nacht mit dem Urteil der Durchbruch gelingt: In jener langen Septembernacht bricht die "Wunde" der Angst zum ersten Mal auf, im Rückblick erscheint ihm die Auseinandersetzung mit dem "Schreckbild" des Vaters, die zur Selbstauslöschung des Sohnes führt, wie eine "regelrechte Geburt" , die unter Absonderung von "Schmutz und Schleim" aus ihm "herausgekommen" ist. "Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele", bilanziert er selbst.

Im Urteil spiegelt sich nicht nur Kafkas eigene Vaterproblematik, sondern auch das Hin und Her der Verlobungswünsche und Heiratsabsichten. Kafka fühlt sich Felice gegenüber bereits schuldig, noch ehe er um ihre Hand anhält. Wie der ferne Freund im Urteil richtet sich Kafka schließlich in einem "endgültigen Junggesellentum" ein. In seinem nächsten Text Die Verwandlung, wieder eine Novelle, wird er den Einbruch des Fantastischen in die Alltagswelt noch verstärken, wird ein verstörendes Symbol für das Leiden an patriarchalischen Familienstrukturen finden.

Der sich aufopfernde Sohn wird zum hilflosen Käfer, schließlich nach dem tödlichen Apfelwurf des Vaters zum Es, das von der Bedienerin entsorgt wird, damit die Familie aufblühen kann, vor allem die geliebte Schwester Grete, die "ihren jungen Körper dehnt" bei der Fahrt "ins Freie" mit der Elektrischen.

Die Begegnung mit Felice hatte bei Kafka einen wahren Schreibrausch ausgelöst, aber sie bleibt Teil der literarischen Fiktion. Außer einigen unerfreulichen Spaziergängen im Tiergarten, ebenso unerfreulichen Besuchen von Möbelhäusern und einem gigantischen Konvolut an Hunderten von Briefen bleibt nach zwei geplatzten Verlobungen nichts von dieser Beziehung als der Wunsch, sich in seinem Nachtasyl allein "vom Wellengang des Schreibens" bestimmen zu lassen.

Die Entlobung hatte er als "Gerichtshof" erlebt, nun macht er sich selbst den Prozess. Er, der sich "wie ein Verbrecher nach der Tat" fühlt, beschreibt, wie eines Morgens die plötzliche Verhaftung Josef K.s als Verhängnis in dessen Leben einbricht und ein undurchdringlicher Prozess ihn im Behördenlabyrinth gefangen hält. Der Prozess "zieht Josef K. von seiner äußeren Wirklichkeit ab und ins eigene Innere hinein", er wird gezwungen, das eigene Leben zu überprüfen, einen "inneren Gerichtstag" zu halten. Es geht um die Schuld existenzieller Selbstverfehlung.

"Kein anderer hat aus seinen Schuldgefühlen so viel gemacht", schreibt Safranski. Im berühmten, nie abgesandten Brief an den Vater resümiert Kafka 1919 selbst sein Leben als ewiger Sohn, dem "Ärgstes" geschehen ist unter der Herrschaft des übermächtigen Vaters und einer Mutter, die er als "Treiberin in der Jagd" empfindet. Wieder war eine Verlobung geplatzt – die Braut, Julie Wohryzek, war nach Ansicht des Vaters nicht standesgemäß –, da begegnet er der außergewöhnlichen Milena Jesenská, einer tschechischen Journalistin und Übersetzerin, und alles scheint ihm noch einmal möglich.

Aber Milena, der es wie niemandem sonst gelungen war, ihm seine Ängste zu nehmen, die ihn als "Nackten unter Angekleideten" sieht, schafft es nicht, ihre "sich allmählich auflösende Ehe" tatsächlich aufzulösen. Es bleibt der Briefwechsel als Liebesroman. Es ist zu spät. Aber die Beziehung ist so tief, dass Kafka ihr einen Teil seines Nachlasses übergeben wird, die Tagebücher und den Brief an den Vater. In seiner letzten großen literarischen Anstrengung, der Geschichte des Landvermessers Klamm im unvollendet gebliebenen Schloss-Roman, finden sich Realitätspartikel und Splitter der Dreiecksgeschichte. "Hätte ich es zustande gebracht, mit ihm zu gehen, so hätte er mit mir glücklich leben können", schreibt Milena mit fast den gleichen Worten wie Frieda im Schloss.

Rüdiger Safranski, "Kafka. Um sein Leben schreiben". € 26,80 / 256 Seiten. Hanser-Verlag, 2024
Hanser

An die Krankheit geklammert

Kafka hat sich längst an die Krankheit "wie an die Rockschöße einer Mutter" geklammert. Mit Ausnahme der in Sanatorien verbrachten Zeit und der letzten Lebensmonate mit Dora Diamant in Berlin bleibt er an die Familie gekettet, bleibt sein Lebensradius auf den innersten Zirkel Prags beschränkt: "Dieses Mütterchen hat Krallen." Die "ungeheure Welt" hat er im Kopf. Eine seiner letzten programmatischen Parabeln heißt Gib’s auf, eine Darstellung der Absurdität menschlichen Bemühens um Weg und Sinn in fünf Sätzen. Einer der letzten Texte wird Ein Hungerkünstler sein: Von der Welt betrogen, konnte er die "ersehnte Nahrung" so wenig wie Gregor Samsa finden. Ausgestellt in einem Käfig und von Wärtern umgeben, versinkt er in sich selbst, ein absolutes Bild der Selbstaufgabe. Nach seinem Tod wird er durch einen jungen Panther ersetzt, dem die Freude am Leben mit "starker Glut aus seinem Rachen" kam.

Erst in seinem allerletzten Lebensjahr, schon todkrank, hat er einen "neuen" Lebensentwurf gewagt. An der Seite der jungen chassidisch erzogenen Helferin des Berliner Jüdischen Volksheimes, Dora Diamant, fühlt er die "stärkende Wirkung von Berlin", befreit sich aus den Prager Krallen und Zwängen, gründet seinen ersten eigenen Hausstand und erlebt zum ersten Mal, dass sich Schreiben, Leben und Liebe nicht ausschließen.

Aber wie immer gibt es ein "Zu spät", die Krankheit ist stärker: "Inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwo an mich heran." Am 3. Juni 1924, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag, stirbt Franz Kafka im Sanatorium in Kierling bei Klosterneuburg. Er wird in Prag beigesetzt, in der Stadt, die er immer verlassen wollte.

Das Grauen des Jahrhunderts

Franz Kafkas Freund Max Brod hat sich zum Glück nicht an die testamentarische Verfügung gehalten, alles zu vernichten. Kafka hatte das Grauen des Jahrhunderts in seinen Albtraumbildern antizipiert. Milena Jesenská, die mutige Kämpferin, wurde 1939 von der Gestapo verhaftet und in das KZ Ravensbrück deportiert, wo sie am 17. Mai 1944 gestorben ist.

Die Fokussierung auf den Kampf des Schriftstellers um das Schreiben selbst und seine Verteidigung des Schreibens gegen alle sonstigen Anforderungen des Lebens führt zwar zu einer durchaus schlüssigen und überzeugenden Betrachtung des Lebens Franz Kafkas, jedoch bringt Safranskis Werkbiografie kaum etwas, was Kafka-Leseende nicht schon wüssten. Gleichwohl ist jedes Buch zu begrüßen, das zum Neu-und Wiederlesen der Werke Kafkas anregt. (Barbara Machui, 23.3.2024)