Den Frühling des Jahres 1914 in Wien dürfen wir uns als sehr schön vorstellen. So klingt das jedenfalls im Tagebuch eines Mädchens namens Fanny, das gerade seine erste Schwärmerei durchlebt. Die Familie, die sich mit dem Schusterhandwerk des Vaters rechtschaffen durchbringt, hat einen Zimmerherrn (Untermieter) aufgenommen, einen jungen Mann namens Joseph Roth. Er stammt aus Galizien, über seine nähere Herkunft erzählt er unterschiedliche Geschichten, aber es kann kein Zweifel herrschen, dass er Jude ist und sich stark mit Habsburg identifiziert. Fanny, 17 Jahre alt, ist von Joseph fasziniert, und auch er scheint etwas für sie übrig zu haben. Allerdings ist die Sache kompliziert, aus den unterschiedlichsten Gründen. Mal hat der junge Herr kein Geld, dann hat er wieder plötzlich recht viel, wenn der Vormund etwas lockermacht. Fanny erlebt einen schillernden Charakter, und während sie schon von Verlobung träumt, jedenfalls von einer heimlichen, erfährt sie auch immer wieder Enttäuschungen.

Die größte ereignet sich an einem Tag, an dem, wie man auch im Volksmund so gern sagt, alles zusammenkommt: In Sarajevo wird der Thronfolger erschossen, und zwischen Fanny und Joseph kommt es bei einer Grottenbahnfahrt zu einer Katastrophe. Denn im Dunkel der Belustigung nimmt sich der in erotischen Dingen wohl noch nicht allzu souveräne Mann eine Freiheit heraus, die nicht sein darf.

In Jan Koneffkes Roman Im Schatten zweier Sommer ist das eine Schlüsselszene, die sorgfältig komponiert wird: Der rollende Wagen kommt im "Purgatorium" zu einem Bild der Stadt Messina, die plötzlich in Flammen steht – der Ätna muss ausgebrochen sein, jedenfalls ein Kulissenvulkan. Und just in dem Moment verspürt Fanny eine unzüchtige, ja grobe Berührung. Mehr als eine Welt geht da unter, in einer schönen literarischen Zuspitzung.

Jan Konnefke, "Im Schatten zweier Sommer", € 25,50 / 304 Seiten. Galiani-Verlag, 2024

Joseph Roth war tatsächlich in dieser Zeit in Wien. Die Figur der Fanny hingegen ist erfunden – eine Legende, so könnte man sagen, in Anlehnung an die berühmte Legende vom heiligen Trinker, dem letzten Text Roths, der 1939 im Pariser Exil starb. Koneffke kam zu seinem Thema, weil er in Wien in eine Wohnung in der Rembrandtstraße gezogen war, und zwar in das Haus, in dem auch Roth eine Zeit gelebt hatte. Da kam also die Inspiration mit dem Meldezettel. Und Koneffke hat eine Menge daraus gemacht.

Zwei Zeitbilder

Denn mit dem Roman gelingt es ihm, zwei Zeitbilder zu verfertigen. Das erste fängt die letzten Monate der Monarchie vor dem Krieg ein, in einem hinreißenden Wien-Roman, der nicht zuletzt durch das Idiom von Fanny begeistert. Sie legt ihre "Seelenbewegungen, die mir nicht klar sind", in einem schönen Wienerisch in einem Tagebuch nieder, das Koneffke in einer unangestrengten Konstruktion als Zeit- und Persönlichkeitszeugnis offenbart. "Ich bin nicht das Madl, das alles verschmerzt", sagt Fanny – aus dem Prolog wissen wir da schon, dass sie selbst eine außergewöhnliche (auch historisch plausible) Person war.

Da sie aus einer sozialdemokratischen Familie kommt, in der gerade der Vater immer einen illusionslosen Blick auf die politischen Realitäten hat, bedarf es auch keiner großen erzählerischen Umstände, um sie 1939 in Paris noch einmal auf Roth treffen zu lassen. Über diese Phase der Schriftstellerbiografie ist viel mehr überliefert. Koneffke ist hier stärker durch Fakten gebunden, aber auch da verschafft er sich ohne viel Zinnober schöne Freiräume, um die nun schon deutlich ins Tragische tendierende Liebesgeschichte doch noch zu denkbaren Erfüllungen kommen zu lassen. Fanny bleibt immer die genaue Beobachterin, auch ihrer selbst, der man als Erzählerin vertrauen will. In Roths Kreisen erlebt sie noch einmal die Erinnerung an "ein gutes Vergangenes", ein jüdisch-kakanisches, linkes Österreich in einem Wien, das zweifellos etwas von einer positiven Beschwörung hat. Nicht von ungefähr geistert Stefan Zweig durch diesen Roman, der das Zeug zu einem veritablen neuen Österreich-Mythos hat. (Bert Rebhandl, 23.3.2024)