Eine bilderreiche, verdichtete Sprache: Valerie Fritsch.
SV/oxyblau

Weder das schiefe und mit Trödel vollgestopfte Haus der Familie Drach noch das Dorf und seine Bewohner in der österreichischen Provinz entsprechen der oft beschworenen heilen ländlichen Welt. Das Dorf war so klein, "dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal unter dem eigenen Dach".

Die Kindheit von August Drach wurde vom gewalttätigen Vater bestimmt, der nur still wurde, wenn er seinen Sohn schlug, und der Liebe nur für seine zwei Hunde empfinden konnte. Die Mutter stellte sich dem Vater nie entgegen, überschüttete ihn aber nach den väterlichen Attacken mit Fürsorge: "Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einem erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah. Es war ein Ritual von Gewalt und Zärtlichkeit."

Als der Vater eines Nachts verschwand, ohne etwas mitzunehmen, tilgte die Mutter seine Spuren, auch die gemeinsamen Fotos in den Fotoalben, sodass in dem entleerten Buch nur die Bildunterschriften überdauerten. Doch für August war das Martyrium nicht zu Ende, es fing erst an, denn die Liebe der Mutter entpuppte sich als Grausamkeit, und diese verweist man von jeher gerne in das Reich der Märchen.

Nähe und Distanz

Wie ihre Figuren wechselt Valerie Fritsch in ihrem Roman Zitronen zwischen Nähe und Distanz, zwischen der allwissenden Erzählperspektive und der personalen Innenperspektive, und ermöglicht so ein atmosphärisch dichtes Eintauchen in die Gefühlswelten ihrer Figuren. Gleichzeitig vermittelt sie in den seriellen Aufzählungen von präzisen Beobachtungen einen schonungslosen Blick über den Einzelfall hinaus auf die verschwiegene und zunehmende häusliche Gewalt in der Gesellschaft. Fritsch schaut nicht weg, sondern wie durch ein Vergrößerungsglas genau hin und verweist in Interviews auf ihre jahrelangen Recherchen und Gespräche mit Tätern und Opfern von Gewalt.

Valerie Fritsch, "Zitronen". Roman. € 24,70 / 186 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2024
Suhrkamp

Ihre Figur Lilly Drach kann ihren Sohn nur lieben, wenn er krank und hilflos ist und sie als pflegende Person von ihrer Umgebung und vor allem von ihrem Arzt Otto Ziedrich, der ihr zweiter Mann wird, bemitleidet und bewundert wird. Sie verabreicht August Tabletten gegen Parkinson und Migräne, die sie seit der Zeit besitzt, als sie als Altenpflegerin gearbeitet hat, mischt Medikamente in sein Essen und steckt ihm die roten Köpfe der Streichhölzer in den Mund, die er lutschen soll.

Sie erfindet seine Krankengeschichte und schiebt ihn eines Tages sogar im Rollstuhl ihrer verstorbenen Mutter durch das Dorf. Die Mutter fühlt ein Glück, wenn sie sich um den kranken August kümmert und ihn bisweilen mit Zärtlichkeit "übermutterte". Sie leidet am "Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom", einer seltenen Krankheit, die nur bei Frauen diagnostiziert wurde, mit all den im Roman beschriebenen Symptomen. Doch davon ahnt der Sohn nichts.

Einen Sommer lang kann die Mutter ihr Zerstörungswerk nur eingeschränkt fortsetzen. Mutter und Sohn verbringen mit Otto Ziedrich mehrere Wochen auf dessen Familienanwesen in Italien zwischen Meer und Zitronenhainen. Lilly hat nämlich die Handtasche mit der Tablettendose in einer Raststätte vergessen, und August geht es fortan jeden Tag ein wenig besser, obwohl sie das mit Vergiftungen und einigen Sabotageakten wie das Hinunterstoßen von der Treppe zum Meer abzuwenden sucht.

Gespeicherter Schmerz

August pflückt Zitronen von den Bäumen und liebt Pasta mit geriebener Zitronenschale. Die Zitronen geben dem Roman nicht nur den Titel, sondern tauchen als Erinnerung immer dann auf, wenn ein wenig Hoffnung den tristen Alltag von August erhellt. Wie brüchig und zerbrechlich diese ist, darauf verweisen eindrucksvoll die gelben Glasscherben und grünen Blätter auf dem Buchcover.

Der Arzt findet nach der Rückkehr den Grund für Augusts Krankheit, aber es bedarf noch des Zufalls eines Blitzschlags, der ihn ins Krankenhaus und dann in eine Großstadt führt. Nach dem Zwischenspiel eines Jobs in der städtischen Gerichtsmedizin kellnert er in Nachtlokalen, Otto Ziedrich finanziert dem Schulabbrecher eine kleine Wohnung. August weiß, dass der "abgelegte Schmerz" in seinem Körper gespeichert ist und er nicht gelernt hat, wie Nähe und Distanz gelebt werden können, ohne gewalttätig zu werden. Doch dann begegnet er der Künstlerin Ava und der großen Liebe, "die Rettung versprach", aber scheitern musste.

Die Erzählerin begleitet ihre Figur August mit großer Empathie bis zu seiner Rückkehr ins Dorf und zu dem Moment, "in dem das Falsche zu tun sich richtiger anfühlt, als es zu lassen". Es gelingt Valerie Fritsch mit ihrer bilderreichen und verdichteten Sprache und dem eigenwilligen Rhythmus und Sound ihres Stils eine verstörende Studie über eine besonders perfide und tabuisierte Gewalt. Erhellend wie kunstvoll enthüllt Fritsch in ihrem Roman Zitronen das Drama einer zerstörerischen Mutterliebe. (Christa Gürtler, 24.03.2024)