Von verstaubten Schachteln und modrigen Kellergewölben bis zu weißen Handschuhen und klinischer Atmosphäre – Archive evozieren viele, oft widersprüchliche Vorstellungen. Gefühle kommen in der imaginierten oder medialen Archivwelt allerdings nur selten vor. Genau diese Lücke schließen zwei aktuelle Sammelbände, Literatur und Archiv. Über Affekte im Archiv und Verschachtelt und (v)erschlossen. Helmut Neundlinger, seit 2021 Leiter des Archivs der Zeitgenossen in Krems, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Hanna Prandstätter waren an der Herausgabe der beiden Bände beteiligt. Im Interview sprechen sie unter anderem über Archivklischees, Nachlassbewusstsein und den Fall Franz Kafka.

Eine in einer Metalldose aufbewahrte Haarsträhne aus dem Bestand Julian Schuttings im Archiv der Zeitgenossen.
Archiv der Zeitgenossen

STANDARD: In einem Dokumentarfilm über Umberto Eco zeigt dessen Tochter in einem Raum mit wertvollen Büchern auf weiße Handschuhe ihres Vaters und meint schmunzelnd, Eco habe sie nie angezogen, weil man Bücher spüren müsse.

Hanna Prandstätter: Archivhandschuhe sind ein Bild, das sehr häufig gebracht wird. In einem Blogbeitrag des Österreichischen Staatsarchivs ist nachzulesen, dass man mit solchen Handschuhen eigentlich nicht arbeiten kann, unter anderem weil damit das Gefühl in den Fingern fehlt. Bei Filmdrehs werden die Handschuhe immer ausgepackt, obwohl sie sonst nicht verwendet werden.

Helmut Neundlinger: Wir merken, dass das Archiv sehr interessant für Filmproduktionen geworden ist. Es entsteht gerade eine Dokumentation über den Komponisten Kurt Schwertsik, der nächstes Jahr 90 wird. Und der Regisseur ist schon jetzt mit großer Leidenschaft in unser Material abgetaucht und will das Archiv auch dezidiert reinnehmen. Für ein Filmprojekt über eine bekannte Autorin, deren Vorlass noch heuer an unsere Institution gehen soll, hat der Filmemacher auch schon angekündigt, dass er das gern filmen würde. Das Archiv befeuert auch die Imagination der Künste.

Helmut Neundlinger leitet das Archiv der Zeitgenossen.
Walter Skokanitsch Fotografie

STANDARD: Viel seltener als Handschuhe werden Gefühle im Zusammenhang mit Archiven thematisiert. Was hat Ihr diesbezügliches Forschungsinteresse geweckt?

Neundlinger: Es ist ein Thema, das ständig präsent ist, über das man aber nicht wirklich spricht und das man noch viel weniger in einem wissenschaftlichen Kontext reflektiert. Die Themenschwerpunkte in den letzten Jahren waren sehr von Digitalisierung in jeder Form dominiert, einem klarerweise drängenden Thema. Aber wir haben in unserer Arbeit immer wieder wahrgenommen, dass es eine Ebene gibt, die offiziell nicht thematisiert wird, die aber sehr virulent und präsent ist. Nämlich einerseits die Affekte, die sich in den Beständen speichern, in den Dokumenten, die wir archivieren und beforschen, und andererseits der Moment, wo wir in Beziehung zu diesem Material treten. Dieser Moment ist begleitet von Gefühlen der Neugier, des Berührtseins, des Mitleidens.

Hanna Prandstätter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin.
privat

STANDARD: Was ist das Besondere an Vorlässen im Unterschied zu Nachlässen?

Prandstätter: Das Besondere bei Vorlässen ist, dass Künstler und Künstlerinnen ihren Bestand noch zu Lebzeiten übergeben. Das bedeutet einerseits, dass dieser Übergabeprozess aktiv von der Künstlerperson gestaltet werden kann. Andererseits kommt es im Zuge dieser Übergabe oft noch einmal zu einer Neubewertung des eigenen Schaffens, des eigenen Lebens. Wie die Menschen damit umgehen, ist ganz unterschiedlich. Es gibt einige, die noch einmal beginnen, Dinge wegzuschmeißen oder auszusortieren, die sie vielleicht doch nicht übergeben wollen. Das heißt, es setzt nochmals ein Bewusstseinsprozess ein in dem Moment, in dem das Material einer offiziellen Institution übergeben wird.

STANDARD: Mit Vorlässen und Nachlässen sind manchmal auch Handlungsanweisungen verbunden.

Neundlinger: Bei Goethe, quasi dem Erfinder des Autorenarchivs, gibt es ungefähr zehn Jahre vor seinem Tod den Impuls, sein Material unter Mithilfe seiner Assistenten zu ordnen. Und er nimmt in diesem Prozess der Aufarbeitung wahr, dass sich sein Werk neu gruppiert. Goethe nützt diese sehr praktische Tätigkeit, nämlich das Archivieren und das Ordnen in seiner Schreibkammer in Weimar, um einen Text darüber zu schreiben: Archiv des Dichters und Schriftstellers, den er 1823 publizierte. Er denkt darüber nach, was das eigentlich bedeutet. Und in der Folge geht es dann bei Goethe ganz stark darum, zu Lebzeiten noch zu bestimmen, wie sein Werk ediert werden soll. Und damit hat er über Jahrzehnte die Goethe-Philologie geprägt. Es gilt das allmächtige Wort des Meisters, an dem alles gemessen werden muss.

STANDARD: Max Brod hingegen hat sich dem Willen von Franz Kafka nach Vernichtung seiner Werke widersetzt.

Neundlinger: Hier ist es umgekehrt wie bei Goethe: der große Verrat des Freundes am letzten Willen des Autors, wobei wir alle natürlich froh und glücklich darüber sind. Es ist nicht ganz geklärt, wie Kafka das eigentlich gemeint hatte. Es gibt auch eine Spekulation, ob das genau umgekehrt zu verstehen gewesen war und Brod eh alles richtig gemacht hat. Man sieht da schon: Selbst ein Autor wie Kafka hat ein Bewusstsein seines Nachwirkens. Und das erzählt etwas über die affektive Besetzung des eigenen Werks und der eigenen Wirkung, dass man möglichst noch mitgestalten, mitsteuern möchte.

STANDARD: Wie ausgeprägt ist das Nachlassbewusstsein der im Archiv für Zeitgenossen vertretenen Autoren und Künstler?

Neundlinger: Bei einem Autor wie Julian Schutting gibt es ganz markante Beispiele, wie sehr er seinen Nachlass als Teil seines Werkes sieht. Das ist den Autoren und Autorinnen schon bis zu einem gewissen Grad bewusst, dass das Archiv eine Art von öffentlichem Ort ist.

STANDARD: Sie haben im Vorlass von Julian Schutting eine Schachtel mit einer Haarsträhne einer geliebten Person gefunden. Wie geht man als Archivarin mit einem derart privaten Objekt um?

Prandstätter: Man ist in Beständen mit teils intimen Dokumenten und Objekten konfrontiert. Das Besondere an der Haarsträhne ist, dass sich schon in der Übergabeliste ein starker Bezug dieses Objekts zum Werk Julian Schuttings herausgestellt hat. Es ist einerseits ein sehr persönliches Erinnerungsstück an eine verstorbene Person, andererseits nimmt der Autor in seinem Werk auf dieses Objekt Bezug. Es hat in gewisser Weise eine Doppelfunktion.

STANDARD: Wie wissen Archivare, wo die Grenzen hinsichtlich der Veröffentlichung von heiklem Material zu ziehen sind?

Neundlinger: Es gibt ganz klare Spielregeln dafür, was zitiert, publiziert oder nach außen kommuniziert werden darf. An diese Regeln muss man sich als Benutzer halten, sie gelten aber auch für das Archiv. Für die Publikation von unveröffentlichten Werken braucht es eine Einverständniserklärung. Das Urheberrecht schützt den Autor auch im Archiv.

STANDARD: Heikles Archivmaterial ist immer wieder mit zeitlichen Sperren belegt.

Neundlinger: Man kann das gut in Bezug auf Ingeborg Bachmann nachvollziehen, von der erst jetzt, 50 Jahre nach ihrem Tod, der Briefwechsel mit Max Frisch erscheint. Die Veröffentlichung hat aus gutem Grund einen Abstand zu den Lebzeiten, weil sie sonst unmittelbar in Beziehungen eingreifen oder diese der Öffentlichkeit preisgeben würde. Es kommt immer wieder vor, dass man da eine Schutzfunktion ergreifen muss. Andererseits muss man sagen, das ist halt das eigentlich Interessante, und hier ist nicht der Gossip gemeint. In der Konstellation Bachmann/Frisch fließen teilweise wörtliche Zitate aus den Briefen in die literarischen Texte der beiden ein, das heißt, eine solche Korrespondenz hat eigentlich schon einen werkgenetischen Charakter. Das ist das, was uns aus literaturwissenschaftlicher Perspektive am meisten interessiert: Was sind die Schichten, die unter den Texten liegen? Insofern betreiben wir auch Textarchäologie, indem wir versuchen, die Texte in ihrem Entstehungskontext zu begreifen und zu beschreiben.

STANDARD: Wie ausgeprägt ist das Bewusstsein für die Marginalisierung bestimmter Personen oder Inhalte?

Prandstätter: Archive gelten gemeinhin als objektive Orte und bei aller Redlichkeit der Institutionen gibt es viele Formen von Ausschluss und Diskriminierung. So herrscht in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse der gesammelten Autorinnen und Autoren ein großes Ungleichgewicht. Es gibt auch sehr wenige Bestände von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund in österreichischen Literaturarchiven. Es gab lange kein Bewusstsein dafür. (Karl Gedlicka, 23.03.2024)

Hanna Prandstätter, Stefan Maurer, "Verschachtelt und (v)erschlossen. Gefühlserkundungen im Archiv". € 24 / 180 Seiten. Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten 2023
Literaturedition Niederösterreich
Helmut Neundlinger, Fermin Suter (Hrsg.), "Gespeicherte Gefühle. Über die Affekte im Archiv". € 50,50 / 175 Seiten. Freier Download (Open Access). De Gruyter, Berlin 2023
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