Stark gepanzerte Polizeieinheiten. Im Hintergrund mehrere Rettungsautos.
Spezialeinheiten der russischen Nationalgarde waren im Einsatz
AFP/Moskva News Agency/SERGEI VE

Moskau – Bei einem Anschlag auf eine Veranstaltungshalle in der Großstadtregion Moskau haben Bewaffnete laut russischem Inlandsgeheimdienst FSB am Freitagabend mindestens 60 Menschen getötet. Die Zahl der Opfer meldete die russische Nachrichtenagentur Tass am frühen Samstagmorgen unter Berufung auf das Staatliche Ermittlungskomitee Russlands. In der Crocus City Hall in der Stadt Krasnogorsk seien zudem 145 Menschen verletzt worden, zu denen auch Kinder zählten. 115 von ihnen seien in Krankenhäuser gebracht worden. Etwa 60 Erwachsene seien schwer verletzt. Russlands zentrales Ermittlungskomitee nahm ein Verfahren wegen eines mutmaßlichen "Terrorakts" auf.

Die Jihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich. Die Gruppe schrieb am Freitag im Onlinedienst Telegram, IS-Kämpfer hätten "eine große Zusammenkunft [...] am Rande der russischen Hauptstadt Moskau" angegriffen.

Spezialeinheiten der russischen Nationalgarde waren im Einsatz. Gesucht werde nach den Verbrechern, teilten die Einsatzkräfte am Freitagabend in Moskau mit. Zudem würden Personen in Sicherheit gebracht. Auf Videos war zu sehen, wie Menschen um ihr Leben rannten.

Angriff kurz vor Beginn eines Konzerts

Nach Behördenangaben wurden nach Schüssen und einer Brandlegung in der Veranstaltungshalle weitere Explosionen gemeldet. Unbekannte in Tarngewändern hätten die Crocus City Hall kurz vor Beginn eines Konzerts gestürmt und das Feuer eröffnet, teilte die russische Generalstaatsanwaltschaft mit. Bei den Opfern soll es sich russischen Medien zufolge sowohl um Mitarbeiter als auch um Besucher der Konzerthalle handeln.

An dem bekannten Gebäude waren lodernde Flammen zu sehen und eine riesige Rauchwolke. Die Lage war unübersichtlich. Nach Behördenangaben waren Dutzende Rettungswagen im Einsatz und viele Busse, um Menschen in Sicherheit zu bringen. Das russische Zivilschutzministerium teilte mit, dass das Gebäude, in dem auch eine Konzerthalle mit tausenden Sitzplätzen ist, auf einer Fläche von 13.000 Quadratmetern in Flammen stehe. Auch Löschhubschrauber waren im Einsatz. Das Dach soll teilweise eingestürzt sein. Später hieß es, das Feuer sei eingedämmt, aber noch nicht vollständig unter Kontrolle.

In der Crocus City Hall gibt es mehrere Veranstaltungssäle, die auch für Messen genutzt werden. Es ist eine der beliebtesten Freizeitstätten für die Moskauer und die Menschen im Umland der russischen Hauptstadt. Immer wieder sind dort auch Stars aufgetreten.

Flammen über Gebäude.
Feuer am Dach der Konzerthalle.
REUTERS/Maxim Shemetov

Russland droht mit Vergeltung

Russlands Präsident Wladimir Putin hat sich nach Kremlangaben "seit der ersten Minute" über die Geschehnisse informieren lassen. Er erhalte über die entsprechenden Dienste ständig alle wichtigen Informationen über das Geschehen und die eingeleiteten Maßnahmen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow Interfax zufolge.

Die Chefin des Föderationsrats, dem Oberhaus des russischen Parlaments, Valentina Matwijenko, drohte den Drahtziehern des Anschlags mit Vergeltung. "Diejenigen, die hinter diesem fürchterlichen Verbrechen stehen, werden die verdiente und unausweichliche Strafe dafür erhalten", schrieb sie auf ihrem Telegram-Kanal. Der Staat werde zugleich alles tun, um den Hinterbliebenen zu helfen, kündigte sie an.

Das Außenministerium in Kiew hat Vorwürfe einer ukrainischen Verwicklung in den Anschlag kategorisch zurückgewiesen. "Wir halten diese Anschuldigungen für eine geplante Provokation seitens des Kremls, um die antiukrainische Hysterie in der russischen Gesellschaft weiter zu schüren", hieß es in einer am Freitag in Kiew veröffentlichten Erklärung des Ministeriums.

EU verurteilt Anschlag

Die USA mahnten in einer ersten Reaktion an, keinen Zusammenhang mit der Ukraine herzustellen. "Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Ukraine oder Ukrainer mit den Schüssen zu tun hatten", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, in Washington. Man könne noch nicht viel zu den Details mitteilen, rate aber zu diesem frühen Zeitpunkt eindringlich von der Annahme ab, dass es eine Verbindung zur Ukraine gebe. "Die Bilder sind einfach schrecklich", betonte Kirby außerdem und sagte, man sei in Gedanken bei den Opfern und ihren Angehörigen. Das US-Außenministerium rate amerikanischen Staatsbürgern vor Ort dazu, große Menschenansammlungen zu meiden. Die Ukraine habe nichts mit der Angriffen zu tun, teilte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak mit.

Markus Reisner, Historiker und Analyst an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, fühlte sich am Freitagabend in einem ersten Statement für den STANDARD unwillkürlich an 1999 erinnert, als der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin Anschläge auf Wohnhäuser in Russland mit hunderten Toten zum Anlass nahm, den zweiten Tschetschenienkrieg loszutreten. "Die Ursache für den Anschlag ist irrelevant, die Folgen werden nachhaltig sein", glaubt Reisner. Und: "Russland entscheidet nun, wie es den Anschlag interpretiert und wie es ihn nutzen will."

Der deutsche Politologe, Publizist und Terrorismusexperte Peter R. Neumann wies am Abend auf X auf massenweise Fake News hin und vertrat die These, dass der IS hinter dem Anschlag stehen dürfte.

Feuerwehrleute vor Feuerwehrautos.
Die Feuerwehrleute bekämpften die Flammen.
REUTERS/Maxim Shemetov

Die Europäische Union hat bestürzt auf den Anschlag reagiert. Die EU sei angesichts der Berichte über einen Terroranschlag schockiert und entsetzt, teilte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell am Freitagabend auf der Plattform X (früher Twitter) mit. "Die EU verurteilt jegliche Angriffe gegen Zivilisten. Unsere Gedanken sind bei allen betroffenen russischen Bürgern."

Auch das österreichische Außenministerium reagierte auf X "schockiert" auf den Terrorakt in Moskau. "Unsere Gedanken sind bei den Familien der Opfer, und wir wünschen allen Verletzten eine baldige Genesung. Wir stehen in ständigem Kontakt mit der österreichischen Botschaft in Moskau und beobachten die Ereignisse aufmerksam", hieß es in dem auf Englisch verfassten Tweet weiter.

Sämtliche Großveranstaltungen abgesagt

Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin sagte am Abend sämtliche Sport-, Kultur- und sonstigen Veranstaltungen für das Wochenende ab. Er bitte um Verständnis für die Maßnahme, schrieb er in seinem Telegram-Channel.

Die Witwe des verstorbenen russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, Julia Nawalnaja, sprach den Familien der Opfer ihre Anteilnahme aus. Nawalnaja lebt im Exil. Ihr Mann, einst scharfer Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin, war erst vor wenigen Wochen in einem russischen Straflager gestorben.

Rettungsautos und gepanzerte Polizeiautos.
Einsatzkräfte vor Ort.
IMAGO/Maksim Blinov

Spekulationen über einen möglichen Terroranschlag in Moskau waren seit dem 7. März kursiert. Damals hatte die US-Botschaft eine diesbezügliche Warnung ausgesprochen, die am 8. März unter anderem auch vom österreichischen Außenministerium übernommen worden war. Putin hatte seinerseits am Dienstag "provokative Erklärungen einer Reihe von offiziellen westlichen Strukturen" über einen möglichen Terroranschlag in Russland heftig angeprangert. "All das erinnert an offene Erpressung und die Absicht, Angst zu verbreiten und unsere Gesellschaft zu destabilisieren", hatte er ausgerechnet vor den Spitzen des für Terrorbekämpfung verantwortlichen Inlandsgeheimdiensts FSB erklärt.

2002 hatten tschetschenische Bewaffnete 850 Menschen in einem Musical-Theater in ihre Gewalt gebracht. Am vierten Tag des Dramas betäubte der Inlandsgeheimdienst die Geiselnehmer und die Geiseln mit einem Gas. Die Terroristen wurden erschossen. 135 Geiseln kamen ums Leben, die meisten von ihnen durch unzureichende medizinische Versorgung. (APA, red, 22./23.3.2024)