Der Gagarin-Platz in Orsk steht unter Wasser, so wie de facto die ganze Stadt.
Der Gagarin-Platzin Orsk steht unter Wasser, so wie de facto die ganze Stadt.
IMAGO/Yegor Aleyev

Nach den Dammbrüchen in der Großstadt Orsk im Bezirk Orenburg, 1.700 Kilometer östlich von Moskau, bahnt sich in Russland eine Jahrhundertkatastrophe an – und noch dazu eine hausgemachte: Denn die Dämme waren nur auf eine Wasserhöhe von 5,5 Metern ausgelegt, durch die schnelle Schneeschmelze liegt der Pegelstand des Ural-Flusses derzeit aber bei über neun Metern. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat bereits ein Strafverfahren wegen Fahrlässigkeit eingeleitet.

Der Ural entspringt im gleichnamigen Gebirge. Von dort fließt er nach Süden, durchquert russische Industrieregionen und mündet im Westteil Kasachstans ins Kaspische Meer. "Der Wasserstand steigt. Mein Auto ist überflutet, das Badezimmer auch. Es nichts mehr übrig geblieben", beschreibt ein Bewohner die Situation in der Stadt. Tausende Häuser seien durch das Hochwasser überflutet worden, teilten die Behörden der Region am Sonntag mit. Allein in Orsk stünden 4.500 Häuser unter Wasser. Auf Videos und Bildern ist zu sehen, dass teils nur noch Dächer aus dem Wasser ragen.

Video: Dammbruch in Orsk: Tausende auf der Flucht
AFP

Tausende Notunterkünfte

Bisher wurden in Orsk elf Notunterkünfte für mehr als 8.000 Menschen eingerichtet. Rettungskräfte berichteten, dass sich die Menschen zum Teil einer Evakuierung widersetzten, weil sie auf eine Besserung der Lage hofften. Doch die ist nicht in Sicht: Nach Angaben des Pressedienstes des Regionalgouverneurs wird der Höhepunkt der Überschwemmungen erst für Mittwoch (10. April) erwartet. Eine Normalisierung der Lage soll es frühestens zwei Wochen danach, ab dem 25. April, geben.

Medizinische Versorgung in der Großstadt gibt es nur noch eingeschränkt, wird auf Telegram berichtet. Es würden nur notärztliche Dienste in zwei Krankenhäusern angeboten. Die Gesundheitsministerin der Region Orenburg, Tatiana Sawinowa, sagte, dass der medizinische Dienst von Orsk unter extremen Bedingungen am Laufen gehalten werde.

Auch in der Gebietshauptstadt Orenburg verschlechterte sich die Situation laut Bürgermeisteramt, dort sei der Wasserstand binnen 24 Stunden um 28 Zentimeter angestiegen. Auch in anderen Flüssen der Region stiegen die Wasserstände. In der Region wurde der Ausnahmezustand verhängt. In Russland sind nach Behördenangaben mehr als 10.400 Wohngebäude durch den über die Ufer getretenen Ural überflutet worden. Betroffen seien 39 Regionen, teilte das Katastrophenschutzministerium mit.

Auch wirtschaftliche Folgen hat die Überschwemmung. In Orsk sei der Betrieb einer Ölraffinerie eingestellt worden, berichtet die Nachrichtenagentur RIA mit Verweis auf Angaben des Betreibers der Raffinerie. Grund für das Herunterfahren der Ölverarbeitung sei es, Umweltgefahren angesichts der Überschwemmungen zu vermeiden. Die petrochemische Anlage unweit der Grenze zu Kasachstan hat eine Jahreskapazität von sechs Millionen Tonnen Öl.

"Kritische Lage"

Unterdessen beorderte Russlands Präsident Wladimir Putin Zivilschutzminister Alexander Kurenkow in die Region. Er sprach am Sonntag von einer "kritischen Lage". Trinkwasser sowie Aufbereitungsanlagen würden benötigt. Die lokalen Behörden wollten mit Impfungen gegen Hepatitis beginnen. Putin selbst sprach laut Kreml per Telefon mit Gouverneuren verschiedener betroffener Regionen. Überschwemmungen seien auch in der sibirischen Region Tjumen sowie in Kurgan unvermeidlich. In der Stadt Kurgan mit über 300.000 Einwohnern wurde eiligst eine Evakuierung an einem Flussufer angeordnet.

APA

Die Staatsanwaltschaft der Region Orenburg warnte die Bewohner und Bewohnerinnen am Montagnachmittag vor "unkoordinierten Aktionen". Die zuständige Behörde betonte, eine Kundgebung im Zusammenhang mit dem Deichbruch nicht genehmigt zu haben und drohte den Aktivisten mit Konsequenzen – bis hin zu Verwaltungshaft.

Für Kreml-Chef Putin ist die Flutkatastrophe ein weiteres Problem im Land. Waren es im vergangenen Winter die maroden Heizkraftwerke und geborstenen Leitungen, so sind es jetzt die Überschwemmungen. Und auch hier scheint Schlamperei örtlicher Behörden zumindest eine der Ursachen zu sein. 2020 hatte die technische Aufsichtsbehörde Rostechnadsor den Damm in Orsk untersucht. Dabei wurden 38 Mängel festgestellt und deren Behebung angeordnet. Es ist unklar, ob dies auch geschehen ist. Der Bürgermeister von Orsk hatte erst in der vergangenen Woche bei einem Ortstermin gesagt, dass der Damm robust sei. Die Probleme im Land häufen sich. Und Wladimir Putin steht unter Erklärungsdruck. (Jo Angerer aus Moskau, 8.4.2024)