Der 59-jährige Alexander harrt aus. Er will sein Haus in der Altstadt von Orsk nicht verlassen. Unter keinen Umständen. Das Haus ist überflutet, Alexander lebt nun auf dem Dach. Er hat Essen und eine Batterie, außerdem haben ihm Nachbarn Trinkwasser gebracht. Der Hund ist noch da, die Katze auch. Seine Mutter und seinen Sohn hat Alexander bei der Evakuierung mitmachen lassen, doch er selbst will bleiben. Er sei doch kein "Obdachloser", sagt er.

Schon jetzt gibt es großflächige Zerstörungen in Orenburg.
EPA/STRINGER

Von den lokalen Behörden erwartet Alexander keine großartige Hilfe, schon gar nicht von den Beamten und Politikern, die aus dem fernen Moskau angereist kommen. Im Überschwemmungsgebiet wird der Unmut der Betroffenen immer größer. Etwa hundert Demonstranten versammelten sich vor dem Rathaus in Orsk, riefen "Schande! Schande!" und warfen den Behörden Versagen vor. So kritisierten sie, dass der Damm, für den nach offiziellen Angaben viel Geld ausgegeben wurde, dem Hochwasser nicht standgehalten hat. Der Bürgermeister und der Gouverneur der Region trafen sich schließlich zu Gesprächen mit einer Delegation der empörten Bürger. Nach dem Treffen versprach Gouverneur Denis Pasler den vom Hochwasser Geschädigten, man werde sie in Hotels und Kurheimen unterbringen anstatt in einer Sammelnotunterkunft.

"Putin hilf!"

Doch das reicht den Betroffenen nicht. Sie skandieren "Putin hilf!". Doch bislang schickt Russlands Präsident lediglich Regierungsmitglieder in die Katastrophenregion, Putin selbst war noch nicht dort. "In Russland gibt es eine Katastrophe nach der anderen", sagt Julia Nawalnaja, die Witwe des im Februar gestorbenen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Die Machthaber seien wie immer nicht vorbereitet, meint die Oppositionspolitikerin im Exil. "Im Winter sind sie nicht auf Frost und Schneefall vorbereitet, im Sommer nicht auf die Waldbrände, im Frühjahr nicht auf das Hochwasser."

Der Wasserstand des Ural in der Region Orenburg war zwischenzeitlich auf 1.069 Zentimeter gestiegen, berichtet die Nachrichtenagentur Ria Nowosti unter Berufung auf den Leiter des Bauministeriums. Als gefährlich gilt die Marke von 930 Zentimetern. Doch die Dämme waren nur auf eine Wasserhöhe von 550 Zentimeter ausgelegt. Und sie waren mangelhaft. 2020 hatte die Aufsichtsbehörde den Damm in Orsk untersucht. Dabei wurden 38 Mängel festgestellt und deren Behebung angeordnet. Es ist unklar, ob dies auch geschehen ist.

Plünderer im zweiten Stock

Ein großes Problem sind inzwischen die Plünderer. Ein Einwohner von Orsk erzählt, das Fenster im zweiten Stock seines Hauses sei zerbrochen gewesen, Computer und Wertgegenstände seien verschwunden. Das Problem hat nun auch die Polizei der Region Orenburg erkannt. Mehr als 900 Mitarbeiter würden jetzt in den überfluteten Gebieten eingesetzt werden. Außerdem warnt man vor Betrügern, die als angebliche Hochwasseropfer um Spenden bitten.

Auf dem Satellitenbild ist der Dammbruch zu sehen
Auf dem Satellitenbild ist der Dammbruch zu sehen
AFP/Satellite image ©2024 Maxar

Die Katastrophe in Russland und im benachbarten Kasachstan wird indes immer dramatischer. Angesichts rasant steigender Pegelstände mussten bis zum Mittwoch bereits mehr als 100.000 Menschen ihre Häuser verlassen. In Kasachstan wurden nach Angaben der Behörden 96.000 Menschen in Sicherheit gebracht. 7.700 Menschen wurden laut einem Bericht der amtlichen Nachrichtenagentur Tass evakuiert und hunderte Häuser überschwemmt. Das Schlimmste stehe den rund 550.000 Bewohnerinnen und Bewohnern von Orenburg jedoch noch bevor, warnen Fachleute. Eine Normalisierung der Lage wird es frühestens am 25. April geben, sagen die Behörden.

Örtliche Helfer tun, was sie können – doch die Unzufriedenheit mit der Reaktion des Staates Russland nimmt zu.
AFP/EVGENIY LUKYANOV

Für Kreml-Chef Putin häufen sich die Probleme im Land. Erst die maroden Heizkraftwerke im vergangenen Winter. Heizleitungen platzten. Menschen versammelten sich bei minus 20 Grad auf den Straßen, wärmten sich an Feuern. Dann der Terroranschlag, den die Behörden nicht verhindern konnten. Und jetzt die Flutkatastrophe. Noch vertrauen die Russinnen und Russen auf ihren wiedergewählten Präsidenten. Doch die Verunsicherung nimmt zu. Eine neue Protestbewegung könnte entstehen. Die der unzufriedenen Bürger. Und die wird Putin nicht so einfach unterdrücken können. (Jo Angerer aus Moskau, 11.4.2024)