Über 100.000 Menschen gingen am Wochenende auf den Kanarischen Inseln wie Gran Canaria, Teneriffa, Lanzarote oder Fuerteventura auf die Straßen. Sie wollen einen anderen Tourismus. Aus gutem Grund, sagt der Soziologieprofessor Eugenio Reyes. Wolle man den Kollaps vermeiden, sei dringend ein Umsteuern geboten.

Menschen in Santa Cruz protestieren gegen den Massentourismus.
Demos gegen Massentourismus auf den Kanarischen Inseln.
EPA/ALBERTO VALDES

STANDARD: Unter dem Motto "Die Kanaren stoßen an ihre Grenze" mobilisieren dutzende Umweltorganisationen, Parteien und Bürgerinitiativen auf allen sieben bewohnten Kanarischen Inseln die Menschen gegen die Auswirkungen des Massentourismus. Fünf Aktivisten befinden sich im Hungerstreik. "Die Kanaren gehen zu Ende", heißt ihr Motto. Warum gerade jetzt?

Reyes: Wir warnen seit den 1990er-Jahren vor den negativen Auswirkungen des Massentourismus. 2002 sammelten wir 120.000 Unterschriften unter einem Volksgesetzesentwurf, der vom kanarischen Parlament angenommen wurde. Es wurde ein Baustopp für touristische Infrastruktur erlassen. In den letzten Jahren wurde dieser aufgeweicht, und schließlich vor vier Jahren wurde das Baugesetz dahingehend geändert, dass umfangreiche Ländereien, die bisher als ländlicher Raum galten oder gar unter Landschaftsschutz stehen, nun urbanisiert werden können. Der endgültige Funke sind zwei riesige Touristenkomplexe mit Hafen in geschützten Gebieten auf der Insel Teneriffa. Die Inselregierung hat nach jahrelangen Auseinandersetzungen grünes Licht gegeben.

Video: Zehntausende protestieren auf den Kanaren gegen Massentourismus.
AFP

STANDARD: Die spanische, aber auch die ausländische Presse spricht von "Tourismophobia".

Reyes: Darum geht es nicht. Alle Umfragen zeigen, dass die Menschen auf den Kanaren nichts gegen die Touristen haben, wir leben seit 150 Jahren mit und von Besuchern. Es geht darum, was die Folgen eines unkontrollierten Massentourismus sind.

STANDARD: Die da wären?

Reyes: 2008, vor der Eurokrise, hatten wir acht Millionen Besucher pro Jahr, 2019, vor Covid, waren es 16 Millionen. Das heißt, in zehn Jahren hat sich der Tourismus verdoppelt. Mit der Pandemie kam die Hoffnung, dass das Modell des Massentourismus Vergangenheit ist. Dem war nicht so. Dieses Jahr werden gar 17 Millionen erwartet. Bei den Protesten geht es nicht nur um Hotelkomplexe. Es geht auch um Luxussiedlungen, die überall entstehen, mit Rasen, Parks, Swimmingpools. Und das auf Inseln, die nur wenig Wasser haben.

Besonders betroffen ist Teneriffa. Über 30 Prozent aller Urlauber, die auf die Kanaren kommen, gehen nach Teneriffa. Die Insel ist dem Kollaps nahe. Lange Staus, Schlangen vor überfüllten Lokalen. Trotz der Folgen wird auf Teneriffa weitergebaut, und die Insel ist für die anderen so etwas wie ein Vorbild.

STANDARD: Wie wirkt sich der Klimawandel aus?

Reyes: Die Inseln sind trockener denn je. Im vergangenen Sommer wurde zum Beispiel das Wasser für die Bevölkerung im Süden Teneriffas rationiert, während es in den Hotels weiterhin Wasser gab, die Pools gefüllt und die Golfplätze besprenkelt wurden.

STANDARD: Der Tourismus macht 40 Prozent der Arbeitsplätze aus und generiert 35 Prozent des BIP auf den Inseln. Wer schlachtet schon die goldene Kuh, von der er lebt?

Eugenio Reyes verweist auf die Nebenwirkungen des Massentourismus. Ein anderer Tourismus sei unerlässlich, sagt er.
Reiner Wandler

Reyes: Aber wir machen doch genau das. Die negativen Auswirkungen des Massentourismus betreffen nicht nur die einheimische Bevölkerung, sondern auch die Touristen selbst. Wem gefallen Staus und Schlangen im Urlaub? Wir wollen unendlich weiterwachsen in einem Gebiet, das endlich ist.

STANDARD: Aber die Menschen auf den Kanaren leben nun einmal von diesem Tourismus.

Reyes: Das ist nicht ganz so einfach. 2009, kurz vor der Bau- und Eurokrise, hatten wir acht Millionen Touristen im Jahr und 15.000 Arbeitslose. Jetzt haben wir doppelt so viele Besucher, aber 26.000 Arbeitslose. Das zeigt: Viele Menschen leben nicht vom Hotel- und Gaststättengewerbe, sondern davon, ständig neue Infrastrukturen aus dem Boden zu stampfen, vom Bau.

STANDARD: Wie sind die Arbeitsbedingungen in der Tourismusbranche?

Reyes: Trotz des Tourismusbooms gehen die Löhne seit Jahren ständig zurück. Überstunden werden oft nicht bezahlt. Die Löhne sind oftmals so gering, dass es mit den hohen Benzinpreisen für viele nicht mehr rentabel ist, lange Anfahrtswege in Kauf zu nehmen. Trotz Arbeitslosigkeit bleiben dadurch viele Stellen unbesetzt.

Hinzu kommt ein neues Phänomen: die Langzeitvermietung von Ferienwohnungen in den Wintermonaten in den Stadtteilen. Es wird immer schwerer für die Einheimischen, erschwingliche Wohnungen zu finden. Der Reichtum, der durch den Tourismus erwirtschaftet wird, kommt der Bevölkerung nicht zugute. Die Kanaren sind mit 36 Prozent der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze die ärmste Region Spaniens. Wir haben hier eine strukturelle Armut, aus der herauszukommen sehr schwer ist.

STANDARD: Ist ein anderer Tourismus möglich?

Reyes: Nicht nur möglich, sondern unerlässlich, wenn wir den Kollaps verhindern wollen. Wir haben hier über 15 Millionen Touristen, die im Schnitt eine Woche bis zehn Tage bleiben. Damit haben wir 150 Millionen Übernachtungen pro Jahr, so viele wie nirgends sonst. Nicht einmal Paris, Nummer eins im Tourismus, hat das. Wir müssen hin zu einem Tourismus, der klimaneutral ist. Dafür braucht es Investitionen. Wir sind eines der wenigen Reiseziele, die keine Übernachtungssteuern – Kurtaxe – erheben. Nur ein Euro pro Nacht wären 150 Millionen Euro pro Jahr. Das würde Arbeitsplätze schaffen. Wir müssen in die Zukunft schauen. Warum nicht gezielt Menschen anziehen, die länger bleiben, weil sie von hier aus online arbeiten können? Digitale Nomaden, Design- oder Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen? Das würde Flugreisen und damit den CO2-Ausstoß verringern und würde gleichzeitig Touristen mit hohem Lebensstandard bringen. Wir müssen weg vom Massentourismus, hin zu einem Tourismus des 21. Jahrhunderts. (Reiner Wandler, 24.4.2024)