Fragment des Orgueil-Meteoriten im Naturhistorischen Museum Wien NHM.
Das größte Orgueil-Fragment der Sammlung des Naturhistorischen Museums hat lediglich etwas mehr als 22 Gramm.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière

Woher stammt das Leben, und wie kam es auf die Erde? Diese Fragen schienen durch die Entdeckung von angeblichen Lebensspuren in einem ganz besonderen Meteoriten eine mögliche Antwort zu bekommen. Für Anhänger der Panspermie-Hypothese, wonach das Leben aus dem All auf die Erde gelangt sein soll, ist der Meteorit Orgueil so etwas wie der heilige Gral: Immer wieder wurden in Studien Funde postuliert, die auf außerirdisches Leben hindeuten sollen. Sogar eine Samenkapsel wurde darin entdeckt. Orgueil (was auf Deutsch Stolz bedeutet) ist deshalb heute einer der am besten untersuchten und leider auch am meisten fehlinterpretierten Meteoriten.

Dabei hat Orgueil eine viel bedeutsamere Geschichte zu erzählen, nämlich jene der Entstehung des Sonnensystems: Seine Zusammensetzung entspricht im Wesentlichen der Verteilungshäufigkeit der chemischen Elemente im Sonnennebel, aus dem vor mehr als 4,5 Milliarden Jahren unser Planetensystem mit der Sonne als zentralem Stern entstanden ist. Er gehört zu den extrem raren kohligen Chondriten der Klasse CI, von denen lediglich fünf verschiedene Exemplare bekannt sind. Die porösen CI-Chondrite enthalten erhebliche Mengen Kohlenstoff, und zwar neben anorganischen Karbonaten auch organische Verbindungen wie Aminosäuren. Zum Teil ist Orgueil sogar noch älter als das Sonnensystem: Er enthält winzige präsolare Diamanten.

Spektakulärer Fall

Orgueils Ankunft auf der Erde war von einem Spektakel begleitet. Am 14. Mai 1864 – just am Vorabend des Pfingstfestes – erstrahlte kurz nach acht Uhr abends ein gewaltiger Feuerball in der Größe des Vollmondes den Himmel über dem Südwesten Frankreichs. Die Explosion des Objektes beim Eintritt in die Atmosphäre soll im Umkreis von 120 Kilometern zu hören gewesen sein. Bei der Ortschaft Orgueil südlich der Stadt Montauban stürzten rund zwanzig Bruchstücke eines tiefschwarzen fragilen Gesteines mit einer Gesamtmasse von etwa 14 Kilogramm zu Boden. Schon bald berichteten die Zeitungen von dem Ereignis, und auch die französische Akademie der Wissenschaften erhielt zahlreiche Zuschriften von Beobachtungen des Meteors von der Normandie bis Nordspanien.

Zwar war die Meteoritenforschung noch eine sehr junge Disziplin der Wissenschaft und der genaue Ursprung der Steine aus dem Weltraum Grundlage für zahlreiche Spekulationen, dennoch war zum Zeitpunkt des Falles von Orgueil bereits bekannt, dass es neben den typischen Eisen- und Steinmeteoriten auch noch weitere Objekte aus dem All gibt, deren Zusammensetzung sie grundlegend von anderen Meteoriten unterscheidet. Schon 1806 war nach dem Meteoritenfall von Alais ebenfalls in Frankreich erstmals ein kohliger Chondrit untersucht worden, nun hatte die Wissenschaft erneut eine erhebliche Menge dieses raren Materials zur Verfügung.

Fragment des Orgueil-Meteoriten im Naturhistorischen Museum Wien NHM.
Am 14.5.1864 stürzten in Frankreich tiefschwarze Gesteinsstücke zu Boden: der Meteorit von Orgueil.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière

Suche nach außerirdischem Leben

Gabriel Auguste Daubrée, Geologe am Muséum national d'Histoire naturelle in Paris, verwaltete eine umfangreiche Sammlung mehrerer Dutzend Meteoriten an seinem Arbeitsplatz. Er leitete umgehend die wissenschaftlichen Untersuchungen des Orgueil-Meteoriten nach dem Stand der verfügbaren Technik ein. Die chemischen Analysen wurden von François Stanislas Cloëz durchgeführt. Er bestimmte den Kohlenstoffgehalt des Orgueil-Meteoriten auf knapp sechs Prozent und verglich seine Eigenschaften mit irdischem Torf oder Kohle.

Daubrée war vorsichtig in seinen Formulierungen und vertrat den Standpunkt, dass nichts für die Existenz von tierischen oder pflanzlichen "organisierten Wesen" auf planetaren Körpern außerhalb der Erde spreche. Nichtsdestotrotz schrieb der Astronom Camille Flammarion bereits 1867 davon, dass die Meteoriten mit organischem Material die Existenz von organisierten Wesen auf ihren Ursprungskörpern zu belegen scheinen. Dies brachte sogar den Chemiker und Mikrobiologen Louis Pasteur dazu, sich mit Orgueil zu beschäftigen. Die Ergebnisse veröffentlichte er jedoch nicht, offenbar, weil seine Suche nach Hinweisen auf extraterrestrisches Leben im Sand verlief.

Comeback

Für beinahe ein Jahrhundert wurde es ruhig um Orgueil – bis 1961 der Geochemiker Bartholomew Nagy nach Untersuchungen mit dem Massenspektrometer konstatierte, dass die Kohlenwasserstoffe in Orgueil in vielerlei Hinsicht jenen biologischen Ursprungs auf der Erde entsprechen. Bald darauf vermeldete Nagy den Fund mikroskopisch kleiner Teilchen, die fossilen Algen ähneln würden. Mehrere verschiedene Formen "organisierter Elemente" wurden von ihm unterschieden, die er mit Dinoflagellaten und Algen verglich – die Story von der Entdeckung außerirdischen Lebens machte die Runde.

Hundertjähriger Hoax

Wenig überraschend wurden in der Folge die weltweit verstreuten Orgueil-Proben intensiver Begutachtung unterzogen. Der Biochemiker Ed Anders widmete sich 1964 einem Exemplar, das seit hundert Jahren im Naturkundemuseum in Montauban unter einem Glassturz eingeschlossen aufbewahrt wurde. Anders fand eine Samenkapsel der Knäuel-Binse und Pollen in dem Meteoriten – dieser war zerbrochen und wieder zusammengeleimt worden. Der Scherz oder Betrug, je nach Sichtweise, wurde mit einer falschen Schmelzkruste aus Anthrazitpulver getarnt. Wer der Urheber der Montage ist, die vermutlich im Kontext der damals geführten Debatte über eine mögliche Spontanzeugung zu sehen ist, konnte nie geklärt werden.

Die "organisierten Elemente" Nagys wurden in der Folge als Kontaminationen mit Pollen oder Sporen oder als Olivin-Kristalle identifiziert. Dennoch argumentierte noch 1966 der Chemienobelpreisträger Harold Urey für einen biologischen Ursprung von Nagys Funden. Außerdem vermutete er, dass die kohligen Chondrite vom Mond stammen würden – woraufhin die US-Weltraumagentur Nasa Quarantänemaßnahmen für Astronauten und Proben der Apollo-Missionen traf. Das von den Mondlandungen auf die Erde gebrachte Material belegte bald darauf jedoch, dass Orgueil sicher nicht von unserem Trabanten stammt.

Heute geht man unter anderem aufgrund von Bahnberechnungen auf Basis der zeitgenössischen Augenzeugenberichte des Falles davon aus, dass Orgueil einen Kometenursprung hat und zu der sogenannten Jupiter-Kometen-Familie gehört. Trotzdem weist er auch große Parallelen zu anderen Chondriten auf, die von Asteroiden stammen – dies spricht für eine Verwandtschaft bestimmter Asteroiden- und Kometengruppen.

Bis zuletzt spekulative Publikationen

Zwischen 1997 und 2013 veröffentlichte der Nasa-Physiker Richard Hoover eine Reihe von Artikeln in Publikationen mit eher zweifelhafter Zuverlässigkeit, in denen er die Entdeckung von Mikrofossilien von Cyanobakterien in verschiedenen Meteoriten behauptete, darunter auch Orgueil. Die Nasa distanzierte sich schließlich offiziell von den Thesen ihres Mitarbeiters, die keinen ordentlichen Peer-Review-Prozess durchlaufen haben.

Fragment des Orgueil-Meteoriten im Naturhistorischen Museum Wien NHM.
Schon früh landeten Teile des Orgueil-Meteoriten auch in der Sammlung des NHM – hier mit dem originalen Sammlungsbeleg.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière

Orgueil in Wien

Durch die lange Historie von wissenschaftlichen Untersuchungen ist natürlich einiges der Gesamtmasse des Meteoriten verlorengegangen – auch wenn die Situation bei Orgueil nicht so extrem ist wie bei seinem Vetter Alais, von dem von der ursprünglichen Masse von sechs Kilogramm nur noch knapp über ein Viertelkilo erhalten ist. Der überwiegende Teil Orgueils liegt im Muséum national d'Histoire naturelle in Paris, das über insgesamt 11,3 Kilogramm verfügt, darunter die Hauptmasse mit 3,15 Kilogramm. Diese zeigt an den Bruchflächen weißliche Spuren: Sulfatadern, die als Beleg für die Existenz von flüssigem Wasser im frühen Sonnensystem interpretiert wurden. Tatsächlich tauchen diese weißen Spuren jedoch in den frühesten Berichten nicht auf, die Orgueil als komplett schwarz beschreiben. Offenbar ist die Einlagerung der Sulfate auf den Einfluss der irdischen Luftfeuchtigkeit zurückzuführen.

Auch in Wien kann Orgueil in Augenschein genommen werden: In der Sammlung des Naturhistorischen Museums sind mehrere Proben des Meteoriten vorhanden, die zusammen lediglich 57,45 Gramm ausmachen. Im Meteoritensaal sind zwei Exemplare in der weltgrößten Meteoritenausstellung zu sehen. Ein Fragment mit 22,45 Gramm ist Teil der systematischen Aufstellung, ein weiteres mit 15,16 Gramm ist in eine Infotafel zur Entstehung des Sonnensystems eingebettet, sozusagen als Zeitzeuge der frühesten Momente unseres Heimatsystems. (Michael Vosatka, 14.5.2024)

Fragment des Orgueil-Meteoriten im Naturhistorischen Museum Wien NHM.
Auch das zweitgrößte Wiener Belegstück hat einen Sammlungszettel mit einiger Patina.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière
Fragment des Orgueil-Meteoriten im Naturhistorischen Museum Wien NHM. Eine kleine Glasphiole mit Korken enthält schwarze Steinbruchstücke.
In einer Phiole werden im NHM zahlreiche Kleinfragmente von Orgueil aufbewahrt.
Foto: NHM/Ludovic Ferrière